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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 6
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Borresholm, Boris von: Die "Sandbank" von 1900
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0452

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Für Zola war dies das Symbol einer Epoche. „Ein Karneval der Götter, dieses
Stück, das den Olymp in den Schmutz zog, eine Religion, eine poetische Welt in
ihrer Gesamtheit verhöhnte, schien ein auserlesenes Labsal. Der Taumel der
Ehrfurchtslosigkeit bemächtigte sich des Publikums. Man trampelte auf der
Legende herum, man zertrümmerte die alten Bilder."
Wo waren auf der Höhe der Gesellschaft die Menschen, die die revolutionäre
Zeit auf ihr Schwungrad genommen und nach oben geführt hatte, die Häupter
der neuen sozialen Ideen, das gesellschaftliche Unterhaus der Nation? Wo war
die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts, die Frucht eines halbhundertt
jährigen Völkern und Ideenkampfes und der fortschreitenden Zivilisation? Eine
traurige Frucht war dieser sogenannte „Fortschritt", der die verderblichste aller
Aristokratien, die des Geldes, zu der Aristokratie der Geburt hinzugefügt und eine
habgierige Meute von Emporkömmlingen zu Herren des Landes gemacht hatte.
In die Blüte des ersten selbständigen Denkens, in das zaghafte Erwachen eines
neuen ethischen Wollens brauste zerstörend der Nihilismus eines neuen hypotheti'
sehen Weltbildes. Die ganze alte Welt der Religionen und Philosophien stürzte zut
sammen, Ströme des alten Denkens unterbrandeten die Stufen des neuen Baues,
und die Stabilisierungsprozesse und Ansätze des neuen Wollens mißbrauchten den
gehetzten Jüngling, dessen einzige Kraft seine schmählich amputierte Jugend war.
Auf der einen Seite feierte man diese Jugend als Symbol, in Wahrheit aber untere
drückte man sie völlig als Zeitalter. Und nach hundert Jahren des qualvollen
Aufstiegs, des Hoffens aller geistigen und sittlichen Kräfte, stand alles wieder am
Anfang. Und im Anfang war der Beamte.
Wenn irgendwelche Ideale dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind, so sind
es die Ideale des Rückschritts. Wenn irgendein Konflikt naturnotwendig ist, so ist
es der Konflikt des Geistes mit der gesellschaftlichen Macht. Wo dieser Konflikt
nicht vorhanden ist, ist es nicht ein Zeichen dafür, daß die gesellschaftliche Macht
einsichtsvoll oder nachgiebig wäre, sondern vielmehr ein Zeichen dafür, daß der
Geist stagniert. Es bedurfte einer ungeheuren, schier übermenschlichen Ant
strengung, um das Volk der Dichter und Denker, das wir bis dahin waren, in ein
Volk von Technikern und Politikern, in das Weltgewaltige von gestern und heute
umzuschaffen. Diese Überanstrengung hatte einen gewaltigen Verlust an Persönt
lichkeit und Innerlichkeit zur Folge. Damit unsere Eltern wesentlich ein Volk von
Armen und Beinen wurden, mußten sie ihr Bestes unterdrücken Hier liegt die
Ursache ihrer betonten Maschinenmäßigkeit.
In einer Zeit, wo die nackte wirtschaftliche Zahl ihre Herrschaft anzutreten
begann, war die Kunst nur noch eine Art Gegenmittel gegen die primitive Prunke
sucht. Statt dunkler Gewölbe und winkliger Gassen entstanden die erkergeschmückt
ten, stucküberladenen Bürgerpaläste, Siegesalleen mit Brunnen und Denkmälern,
Mammutbauten einer lärmvollen steinernen Kraftmeierei und Kulträume in der
Art spiegelwändiger Bierhallen. Das „Erbe der Väter" rechtfertigte den eklektü
zistischen Unfug der Enkel. Sie legten sich den Stil aller Vergangenheit um wie

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