Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 16.1936
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0712
DOI issue:
Heft 9
DOI article:Haraszti, Emil: Die Macht der Illusionen
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unwirklich sind, Hirngespinste, Utopien, aber er weiß auch, daß er das
Opfer ihres Betruges wird. Man fragt sich, wieweit dieser Betrug der
Menschen führt? Und doch folgt der Mensch dem verrückten Rennen nach
den Illusionen. Vor allem auf politischem Gebiet.
Der Durchschnittsmensch will der Wirklichkeit, den wirklichen Forde-
rungen, den grausamen Wahrheiten des Lebens nicht in die Augen sehen.
Er will sie von sich abhalten, sie solange als möglich hinausschieben. Die
Wahrheit zu kennen würde das Ende der Illusionen bedeuten, ohne die
das Leben unerträglich sein würde. Wir wollen nur Illusionen, und so
haben wir auch nur Illusionen ... Das ist es, weshalb sich unser Leben
zum Tragischen wendet.
Alle unsere Gesellschaftsklassen haben nur den einen Wunsch: in die
in tausend Farben schillernden Segel der Illusionen zu tauchen und sich
darin einzuhüllen. Unter denen, die am begierigsten nach Illusionen aus
sind, nimmt der kleine Bürger den ersten Platz ein. Unverbesserlicher
ewiger Träumer, eingezwängt in eine unglaubliche Geistesenge, ist er die
Quelle aller Revolutionen. Wenn er seine Illusionen verwirklichen will,
kennt er keine Hindernisse. Es ist kein Zufall, daß unter der Regierung
Louis Philipps in Frankreich die Romantik in vollem Glanze stand. Das
durch die napoleonischen Kriege verarmte Europa hing dem Ideal der
Freiheit nach. Der Bürger regierte. Um das Elend, die Mißhelligkeiten
und die kleinen Kämpfe zu vergessen, nahm er Zuflucht in die Welt seiner
Illusionen. Was sind die Romantiker? Illusionisten, die es erreicht haben,
die Seele des Bürgers ins Schwingen zu bringen, so daß sie sich danach
sehnt, sich in fremde Regionen zu stürzen. Der Mystizismus Chateau-
briands, die Rhetorik Victor Hugos, das Kolorit Delacroix', die Programm-
Musik Berlioz', das Gemeindehaus Fouriers*) sind nur mehr oder minder
unbestimmte Illusionen. Die Revolution von 1848 kennzeichnet die Grenze
der Illusionen zweier Jahrzehnte. Das Volk der konstitutionellen Mon-
archie sah keine Illusionen mehr mit seinen lange geblendeten Augen...
Das Volk mit unwirklichen und nicht zu verwirklichenden Illusionen
zu verführen, ist Demagogie. Seit der großen Revolution plagt uns eine
einzige Illusion: die der persönlichen Freiheit. Man versteht unter dem
Wort „Freiheit" den Auswuchs des Individualismus und des Egoismus,
als die Massen es sich in den Kopf setzten, einzig und allein ihren Illusionen
nachzugehen. Es ist unnötig zu sagen, daß der Weg falsch war. Er führte
zum Zusammenbruch der Illusionen. Die politischen Utopien kennzeichnen
den Zusammenbruch der menschlichen Intelligenz. Leben wir nicht in einer
Epoche, in der alle so modernen und den Träumern vom Parlamentarismus
bis zum Radikalsozialismus so kostbaren „ismen" sich in einer Sackgasse
ohne Ausweg befinden? Einer der glänzendsten Geister aller Zeiten,
Montesquieu, hat keine Gelegenheit verfehlt, zu unterstreichen, daß die
*) Franz. Soziologe d. 18. Jahrhunderts, der hierfür ein besonderes System entwarf
(Anm. d. Übers.).
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Opfer ihres Betruges wird. Man fragt sich, wieweit dieser Betrug der
Menschen führt? Und doch folgt der Mensch dem verrückten Rennen nach
den Illusionen. Vor allem auf politischem Gebiet.
Der Durchschnittsmensch will der Wirklichkeit, den wirklichen Forde-
rungen, den grausamen Wahrheiten des Lebens nicht in die Augen sehen.
Er will sie von sich abhalten, sie solange als möglich hinausschieben. Die
Wahrheit zu kennen würde das Ende der Illusionen bedeuten, ohne die
das Leben unerträglich sein würde. Wir wollen nur Illusionen, und so
haben wir auch nur Illusionen ... Das ist es, weshalb sich unser Leben
zum Tragischen wendet.
Alle unsere Gesellschaftsklassen haben nur den einen Wunsch: in die
in tausend Farben schillernden Segel der Illusionen zu tauchen und sich
darin einzuhüllen. Unter denen, die am begierigsten nach Illusionen aus
sind, nimmt der kleine Bürger den ersten Platz ein. Unverbesserlicher
ewiger Träumer, eingezwängt in eine unglaubliche Geistesenge, ist er die
Quelle aller Revolutionen. Wenn er seine Illusionen verwirklichen will,
kennt er keine Hindernisse. Es ist kein Zufall, daß unter der Regierung
Louis Philipps in Frankreich die Romantik in vollem Glanze stand. Das
durch die napoleonischen Kriege verarmte Europa hing dem Ideal der
Freiheit nach. Der Bürger regierte. Um das Elend, die Mißhelligkeiten
und die kleinen Kämpfe zu vergessen, nahm er Zuflucht in die Welt seiner
Illusionen. Was sind die Romantiker? Illusionisten, die es erreicht haben,
die Seele des Bürgers ins Schwingen zu bringen, so daß sie sich danach
sehnt, sich in fremde Regionen zu stürzen. Der Mystizismus Chateau-
briands, die Rhetorik Victor Hugos, das Kolorit Delacroix', die Programm-
Musik Berlioz', das Gemeindehaus Fouriers*) sind nur mehr oder minder
unbestimmte Illusionen. Die Revolution von 1848 kennzeichnet die Grenze
der Illusionen zweier Jahrzehnte. Das Volk der konstitutionellen Mon-
archie sah keine Illusionen mehr mit seinen lange geblendeten Augen...
Das Volk mit unwirklichen und nicht zu verwirklichenden Illusionen
zu verführen, ist Demagogie. Seit der großen Revolution plagt uns eine
einzige Illusion: die der persönlichen Freiheit. Man versteht unter dem
Wort „Freiheit" den Auswuchs des Individualismus und des Egoismus,
als die Massen es sich in den Kopf setzten, einzig und allein ihren Illusionen
nachzugehen. Es ist unnötig zu sagen, daß der Weg falsch war. Er führte
zum Zusammenbruch der Illusionen. Die politischen Utopien kennzeichnen
den Zusammenbruch der menschlichen Intelligenz. Leben wir nicht in einer
Epoche, in der alle so modernen und den Träumern vom Parlamentarismus
bis zum Radikalsozialismus so kostbaren „ismen" sich in einer Sackgasse
ohne Ausweg befinden? Einer der glänzendsten Geister aller Zeiten,
Montesquieu, hat keine Gelegenheit verfehlt, zu unterstreichen, daß die
*) Franz. Soziologe d. 18. Jahrhunderts, der hierfür ein besonderes System entwarf
(Anm. d. Übers.).
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