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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 1
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Schneider, Arthur von: Ein frühes Versperbild vom Oberrhein
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0036

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Ergebung versunken, in einigen Fällen als ganz junge Frau charakterisiert, wo-
bei ihr Gesicht keinerlei Leidensspuren aufweist. Der Leichnam Christi ent-
hält, wie das Fragment des Freiburger Augustinermuseums und der Heiland
des Vesperbildes in Bamberg zeigen, ebenfalls nur Andeutungen der grauen-
vollen Marter, sein Gesichtsausdruck ist still und beruhigt. Im Gegensatz zu
diesem lyrischen Typus steht die dramatische oder monumentale Darstellungs-
reihe, die wahrscheinlich ihren Ausgang von Franken aus genommen und sich
von hier aus über den größten Teil Deutschlands verbreitet hat. Das berühm-
teste und älteste Beispiel ist das Vesperbild aus Scheuerfeld auf der Feste Coburg
(Taf. I bei Passarge). Maria erscheint hier als reife Frau oder Greisin mit schmerz-
verzerrtem Antlitz 5 Körper und Gesicht Christi sind durch die Merkmale qual-
vollsten Leidens entstellt. Der dramatische Typus neigt zu überlebensgroßer
Gestaltung, der lyrische ist in der Regel unterlebensgroß gehalten.
Lyrische Stimmung spricht in unserem Vesperbilde aus dem Gesichtsausdruck
Marias und des Heilandes: hier herrscht sanfter Frieden, dort stille Resignation.
Als lyrisch empfindet man auch die Gelöstheit und Entspannung in den Zügen
von Mutter und Sohn, als lyrisch das Fehlen sichtbarer Leidensfalten. Ebenso
zeigt der Körper Christi keine übertriebenen Entstellungen als Folge des er-
littenen Kreuzestodes. Zwar ist die Rippenbildung angedeutet und gleicher-
weise der Lanzenstich, es fehlen aber die Blutspuren, die beim dramatischen
Typ so häufig zu mystischen Trauben gerinnen, es fehlt das Wundmal an dem
erhaltenen rechten Fuße, das betonte Herauspressen des Brustkorbes, das Her-
vortreten der Rückenwirbel u. a. m.
Zur Verdeutlichung der Eigenart unserer lyrischen Gruppe sei hier als Gegen-
stück ein weiteres, bisher ebenfalls unpubliziertes Vesperbild der gleichen
Sammlung und gleicher oberrheinischer Provenienz erwähnt, das nicht viel
später, um 1550, entstanden sein kann. (Abb. 2. Lindenholz, hinten aus-
gehöhlt. H. 98, B. 35, T. 2g cm. Reste alter Polychromie.) Hier ist der dra-
matische Typus charakteristisch ausgeprägt. Wie entsetzt starrt Maria mit zu-
rückgebogenem Oberkörper den toten Christus an, ihn mit ihrer Rechten von
sich weghaltend. Gramvoll sind ihre Augenbrauen in die Höhe gezogen, senk-
rechte Falten durchziehen ihre Stirn, tiefe Leidensfurchen laufen rechts und
links von der Nase zu den Mundwinkeln herab, die sich schmerzlich nach
unten biegen. Der Kopf Christi ist nach hinten gesunken, das Gesicht nach
vorne geneigt, um dem Beschauer die leidenden Züge zu weisen 5 seine Augen
hat der Heiland geschlossen, den Mund qualvoll geöffnet. Brust und Leib sind
scharf gegeneinander abgesetzt, neben den Rippen auch die einzelnen Rücken-
wirbel bloßgelegt, der Lanzenstich erscheint stark ausgehöhlt, das herunter-
hängende Lendentuch dramatisch bewegt.
Die Provenienz dieses dramatischen Vesperbildes aus dem oberrheinisch-schwä-
bischen Kunstkreis bestätigt aufs neue die bereits ausgesprochene Vermutung
(vgl. Noack, S. 8), daß beide Darstellungsreihen in dieser Gegend nebeneinander
hergingen, wobei der lyrischen Auffassung nach der größeren Anzahl des bis-
her vorliegenden Materials allerdings das Primat zuerkannt werden muß. Auch
zu dieser Erkenntnis möge die Publikation unserer lyrischen Gruppe beitragen.
 
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