Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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Heft 1
DOI Artikel:Giedion, Sigfried: Zur Situation der französischen Architektur, [1]
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nachweisen, daß man im Jahre 1915 — als Perret sein Theater in den Champs
Elysees baute — längst keine Jugendstilornamentik mehr verwendete (vgl.
Abb. g, Stiegenhaus, Foyer mit Stiege) und hei der Betongotik seiner Kirchen
in Le Raincy (1925) oder St. Therese in Montmagny (1925) fiele es nicht
schwer, den dekorativen Beckmesser zu machen. Zweifellos gleitet Perrets
Formensprache bei allen Bauten, die nicht reine Nutzbauten sind ■— wie die
Garage in Ponthieu 1905, die wohl zum ersten Mal in der Architektur ein
Betongerüst mit solcher Ausschließlichkeit makellos Fassade werden läßt, die
Docks von Casablanca 1916, die Kleiderfabrik Esders 1919 — leicht in anfecht-
bare Dekoration.
Seine Wolkenkratzerprojekte von 1922 mit ihren Türmchen und Kollonaden
wollte man gewiß nicht in Wirklichkeit umgesetzt sehen. — So wenig wie vom
»fenetre Hausmann«, dem langen, schmalen, hochgehenden Fenster, das ein-
heitlich die Fassaden von Paris bildet, kommt Perret in seinen Villen, Häusern,
Theatern von Gesimsen und Stildetail los.
Aber Perret ist Konstrukteur. Ingenieurarchitekt. Von Anfang an. Sein
Haus in der Rue Franklin (Paris) 1905 ist das erste Beispiel, in dem der
Eisenbeton für ein Wohnhaus in An-
wendung kommt und die Fassade das
Trägergerüst als konstituierendes Ele-
ment offen zeigt. (Abb. 3.)
Fast visionär liegen in dem schmalen
Mietshaus die Keime späterer Entwick-
lung, die Le Corbusier und andere aus-
bauten: Die Fassade als Ebene ist zer-
stört. Sie ist ausgehöhlt, greift in die
Tiefe, springt wieder vor, läßt sechs
Stockwerke freischwebend vorkragen,
entsendet im sechsten Stockwerk, nackt,
die viereckigen Ständer. Die Fassade
ist beweglich geworden! Das Dach
trägt bereits Rudimente eines Gartens.
Der Bau ist nach oben zu fast schwe-
bend und im Erdgeschoß — man be-
achte, 1903, die Ausbildung des Ladens,
der von dünner Betonplatte überdeckt
ist — bleibt nichts an Masse, als die
schmalen Betonpfeiler. So daß das
Haus nach oben zu sich zu verbrei-
tern scheint wie jene Eisentürme von
Nauen, deren Basis ein Punkt ist.
Der nächste Schritt ist die Garage in
der Rue Ponthieu (Paris) 1903. Das
Füllmauerwerk fällt weg. Beherrschend
wird der schlanke Rahmenbau, die
Glasfläche von dünnen Eisenstäben ge-
gliedert, kurzum: die Öffnung! Auch
Abb. 6. A. u. G. Perret, Garage Ponthieu. 1905
Wohl erster Versuch, die Möglichkeiten des Eisen-
betons voll auszunützen und ohne Umschweif in
der »Fassade« durchzudrücken. Daher die gro-
ßen Öffnungen, Glasflächen, Leichtigkeit! — Un-
willkürlich haftet man an der dekorativen Spinn-
webe in der prächtigen Mittelöffnung. Nachklang
von Violet-le-Duc’s Rosengotik