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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 1
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Giedion, Sigfried: Zur Situation der französischen Architektur, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0045

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Im Anschluß an vorstehenden Artikel veröffentlichen wir die folgende Erklärung von Dr.
S. Giedion- Zürich, der fortan die Abteilung für moderne Architektur im Cicerone selb-

ständig betreut:

ZUM NEUEN BAUEN

Zwei Ursachen kommen der künftigen Vorherrschaft der Architektur entgegen:
Das immer stärker werdende Verlangen, alles unmittelbar ins Leben zu projizieren, vom
Leben durchspülen und durch das Leben sanktionieren zu lassen. Dies trifft sich mit dem
Wesen des Bauens. Dann aber: Das WOHNPROBLEM rückt in den Vordergrund.
(Wohnungsnot). Zum erstenmal tritt in der Architektur die Masse als Bauherr auf,
denn die Masse läßt sich nicht mehr zugunsten einiger Unternehmer kasernieren. Die
Masse hat Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse können nur befriedigt werden durch äußerste
Rationalisierung, neue Methoden, neue Arbeitsweisen. Davon wird die ganze Architektur
befruchtet werden. Bauen bedeutet heute nicht mehr »künstlerischen« Schmiß, genia-
lische Fettkohlenskizzen. Bauen bedeutet heute äußerste Exaktheit, Sparsamkeit, ganz
gleichgültig, um welche Bauaufgabe es sich handelt. Um das erreichen zu können, muß
mit hindernden Traditionen und verfaulten Vorurteilen rücksichtslos gebrochen werden.
Ein Reinigungsprozeß ist nötig:
Die Wertung der Architektur, die Architekturkritik ist heute unter allen Zweigen der
Kritik die verworrenste. Es herrscht unter Laien und Historikern eine bemerkenswerte
Unsicherheit, w'ie zu neuen Bauten Stellung zu nehmen ist und was man unter heu-
tigem Bauen zu verstehen hat.
Die kunstgewerbliche Infiltration der Architektur, unter der Deutschland vielleicnt am
meisten zu leiden hatte, zieht das Urteil immer wieder von den wesentlichen Punkten ab.
Es wird unser Ziel sein, immer wieder von der Fassade weg auf ein funktionelles Er-
fassen des Bauwerkes hinzuarbeiten. Wir wrerden deshalb manchen Bau veröffentlichen, über
den der rein ästhetische Beurteiler nicht mit Unrecht die Nase rümpfen wird und man-
chen Bau verwerfen, der vielen heute noch geschmäcklerisch reizvoll erscheint.
Es soll im Verlaufe auch den der Architektur Fernstehenden klar werden, daß die Form
heute immer gleichgültiger wird.
Wichtig sind Bauten, in denen neue Entwicklungsmöglichkeiten liegen, auch wenn
sie formal unzureichend sind. Wichtig sind vorab Bauten, die in ihrer Organisation un-
seren geänderten Lebensbediirfnissen, vorgreifend, entgegenkommen. Dadurch wird
das Bauwesen aus der ästhetisch-kunstgewerblichen Atmosphäre in das unmittelbare
Leben gestellt, und darauf kommt es heute an, wenn wir gestalten wollen.


Abb. g. Tony Garnier

Stadion Lyon
 
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