Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0210
DOI issue:
Heft 6
DOI article:Giedion, Sigfried: Zur Situation der französischen Architektur, 2
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Abb. 22, 23. Le Corbusier: Haus Laroche
in Auteuil. Architektonische Durchblutung
der Skizze Abb. 19
Links: die Struktur
Rechts: der ausgeführte Bau
dringen einander. Hatte Lloyd Wright — zwanzig Jahre früher — das Haus
in der Horizontale in einander durchdringende Räume zusammengeschmolzen,
so tut das Corbusier auch in der Vertikale. Es ist gut, dem Haus die Haut ab-
zuziehen und gerade im nackten Skelett sichtbar zu machen wie in der Struktur
die Teile kantenlos zueinanderfliehen (Abb. 33). Räume und Licht, Innen und
Außen strömen einander zu. In die Decke noch ist an unerwarteter Stelle (über
der wandlos verbundenen Ribliothek im 2. Stock) ein quadratisches Oberlicht
gebrochen, durch dessen klares Glas der Himmel sieht. Auch die Decke sei
leicht. Kein lastender Abschluß. (Rietveld vermag mit einem Griff in seinem
Utrechter Haus ähnliches zu erreichen.)
1936/27. In einem Haus in Neuilly, das sich im Rau befindet, scheinen uns
die vorläufig letztmöglichen Konsequenzen an Auflockerung geleistet zu sein.
Ein Windstoß scheint das Haus aufheben zu können. Erst ein Durchschreiten
könnte lehren, ob hier Lyrismus der Wirtschaftlichkeit Platz gemacht hat1.
Corbusier erleichtert die Architektur an sich. Den Übergang zum Bewegten,
zu dem die Architektur tendiert, macht er nicht mit. Man wird darum ver-
geblich in seinen Bauten nach verschiebbaren Wänden suchen, wie sie Riet-
veld verwendet, mit deren Hilfe er etwa ein ganzes Stockwerk in einen ein-
zigen Raum umwandelt. Dafür knetet Corbusier die Wände und biegt sie wie
einen Konzertflügel, wenn er es nötig hat. Offen läßt er auch die runden
Betonsäulen einen Raum durchdringen. Sie weisen nach unten und oben. Sie
sollen beruhigende Schildwachen sein, wie er meint.
Man hat Corbusier vorgeworfen, daß er Romantismus treibe, in dem er Form-
komplexe von Schiffsbauten ohne weiteres in Architektur ummodle. Dies trifft
auch zum Teil zu (vgl. Haus Miestchaninoff, Abb. 20,21). Die Holländer der
Stylgruppe fragen intensiver nach den reinen Gestaltungsprinzipien der Archi-
tektur. Die Konstruktivisten um Mart Stam kümmern sich nicht um lyrischen
1 Wir verweisen auf Rasmussens Aufsatz: Kommende Baukunst? in Wasmuths Monats-
hefte, der zahlreiche ergänzende Abbildungen, auch über Pessac enthält (1926, Nr. 9).
188
in Auteuil. Architektonische Durchblutung
der Skizze Abb. 19
Links: die Struktur
Rechts: der ausgeführte Bau
dringen einander. Hatte Lloyd Wright — zwanzig Jahre früher — das Haus
in der Horizontale in einander durchdringende Räume zusammengeschmolzen,
so tut das Corbusier auch in der Vertikale. Es ist gut, dem Haus die Haut ab-
zuziehen und gerade im nackten Skelett sichtbar zu machen wie in der Struktur
die Teile kantenlos zueinanderfliehen (Abb. 33). Räume und Licht, Innen und
Außen strömen einander zu. In die Decke noch ist an unerwarteter Stelle (über
der wandlos verbundenen Ribliothek im 2. Stock) ein quadratisches Oberlicht
gebrochen, durch dessen klares Glas der Himmel sieht. Auch die Decke sei
leicht. Kein lastender Abschluß. (Rietveld vermag mit einem Griff in seinem
Utrechter Haus ähnliches zu erreichen.)
1936/27. In einem Haus in Neuilly, das sich im Rau befindet, scheinen uns
die vorläufig letztmöglichen Konsequenzen an Auflockerung geleistet zu sein.
Ein Windstoß scheint das Haus aufheben zu können. Erst ein Durchschreiten
könnte lehren, ob hier Lyrismus der Wirtschaftlichkeit Platz gemacht hat1.
Corbusier erleichtert die Architektur an sich. Den Übergang zum Bewegten,
zu dem die Architektur tendiert, macht er nicht mit. Man wird darum ver-
geblich in seinen Bauten nach verschiebbaren Wänden suchen, wie sie Riet-
veld verwendet, mit deren Hilfe er etwa ein ganzes Stockwerk in einen ein-
zigen Raum umwandelt. Dafür knetet Corbusier die Wände und biegt sie wie
einen Konzertflügel, wenn er es nötig hat. Offen läßt er auch die runden
Betonsäulen einen Raum durchdringen. Sie weisen nach unten und oben. Sie
sollen beruhigende Schildwachen sein, wie er meint.
Man hat Corbusier vorgeworfen, daß er Romantismus treibe, in dem er Form-
komplexe von Schiffsbauten ohne weiteres in Architektur ummodle. Dies trifft
auch zum Teil zu (vgl. Haus Miestchaninoff, Abb. 20,21). Die Holländer der
Stylgruppe fragen intensiver nach den reinen Gestaltungsprinzipien der Archi-
tektur. Die Konstruktivisten um Mart Stam kümmern sich nicht um lyrischen
1 Wir verweisen auf Rasmussens Aufsatz: Kommende Baukunst? in Wasmuths Monats-
hefte, der zahlreiche ergänzende Abbildungen, auch über Pessac enthält (1926, Nr. 9).
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