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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 15
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Wescher, Paul: Eine Zeichnung des Hugo van der Goes
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0497

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Pollajuolo den abgebildeten Studienkopf eines nicht mehr ganz jugendlichen
Mannes mit der turbanartigen Mütze, die während des 15. Jahrhunderts im
Norden wie im Süden getragen wurde (Abb. 2). Der offenbar nach dem Leben
Porträtierte zeigt jenen merkwürdig ernsten, sch wermütig-sinnenden, fast gram-
durchfurchten Ausdruck und den unbestimmten, zweiflerisch schweren Blick,
den wir von den Nebenfiguren aus den großen Altären des Goes her kennen, den
Hirten des Portinarialtars oder der Geburt Christi im Kaiser-Friedrich-Museum
und am meisten von den Aposteln des Marientodes in Brügge, und der, wie wir
wissen, vom eigenen Wesen des Künstlers etwas widerspiegelte und jedenfalls in
seiner eigenen tiefsten Temperamentsanlage begründet war. — Die Gesichte des
Goes sind es j a vor allem, die die gelebten und zeitlosen Worte seiner Sprache reden,
die wie die Munchs, Cdzannes, van Goghs in unseren Tagen irgendwo aufwühlen,
was das bürgerliche Leben und seine glättende Tendenz zu verdecken bestrebt war
zu allen Zeiten. Yan der Goes sah das »Volk«, das wurde gesagt, er sah tiefer hin-
ein in die menschlichen Züge, weil er mit dem überwachen Sinn des krankhaft
Empfindsamen, des Zweifelnden, der zwischen dem Innen und Außen seiner
Existenz nicht mehr zu scheiden wußte, sie begriff, aus größerer Nähe, größer
im Ausmaß, unmittelbarer im Ausdruck als irgendeiner zuvor. Das individuelle
Gesicht, das vom geistigen Prozeß geformte und verfeinerte Gesicht des denken-
den Menschen, des um Erkenntnis sich mühenden Menschen, bei ihm zuerst
wird es im Norden wieder Gestalt, und die Männer sind offenbar darum bei ihm
im Vorzug vor den Frauen.
Im gleichen Maß wird der große realistische Zug dieser Zeichnung niemals bei
dem immerhin stark quattrocentistisch gebundenen Piero Pollajuolo zu finden
sein. Näher steht Domenico Ghirlandaio, mit dessen Zeichnungen auch in der
Technik bestimmte Verwandtschaft herrscht. Das Verhältnis Goes und Italien,
mehrfach gemutmaßt, wird gewiß durch diese Zeichnung aufs stärkste angerührt.
Indessen liegt das italienisch anmutende in der langgezogenen Schlankheit des
Kopfes mehr als in der Formgebung oder Formempfindüng. Ähnlichkeit äußerer
typisierender Art besteht mit einem Stifterbildnis des Goes, früher ausgestellt
im Rijksmuseum-Amsterdam, jetzt in Baltimore in Privatbesitz (Abb. Friedländer,
D. altnied. Malerei; Bd. IV, Taf. 29). Wenn überhaupt, so kommt von Italie-
nischem am nächsten jener Bildnisstil, der durch die Philosophenbüsten im Studio
des Herzogs von Urbino verkörpert wird, also Justus van Gent. — In einigen
greifbaren Einzelheiten verrät sich indessen der Künstler dem nachspürenden
Blick. Charakteristisch die Stirnhaare, die in kleinen geteilten Büscheln unter
der Mütze hervorquellen, der Schnitt und die Stellung der Augen, des Mundes
und die Form des Ohrs, die durch zahlreiche Furchen, Vertiefungen, Hervor-
bildungen belebte Oberfläche des Gesichtes, das unbegreifliche Phänomen, daß
gleichsam die Natur sich schon im Vorbild dem Künstler anzubieten scheint in
der erstrebten idealen Gestalt. — Die Faltung der Mütze deutet, ganz im Gegen-
satz zu der übernatürlich reifen Ausdrucksform, auf relativ frühe Entstehung
des Blattes. Nach 1450 bis 1460 scheint die Tracht abgekommen zu sein. An einer
dem Hugo van der Goes neuerdings zugeschriebenen Zeichnung mit dem Evan-
gelisten Lucas im Berliner Kupferstichkabinett läßt sich dieselbe Kopftracht be-
obachten (Abb. 1). Auch in der strichelnden Art der Zeichnung besteht Verwandt-
schaft. Dann aber — und darin liegt außerhalb vom Stilistischen der stärkste

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