Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0797
DOI Heft:
Heft 24
DOI Artikel:Giedion, Sigfried: Die Wohnung: ein Rückblick auf Stuttgart 1927
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Henri Matisse
Pariser Herbstsalon 1927]
Akt
In sechs übereinanderliegenden Wohnungen Mies van der Rohes versuchte eine
Anzahl Schweizer Architekten durch kollektive Zusammenarbeit sechs ver-
schiedenen Grundrißtjpen der neuen Mietswohnung näherzukommen. Man
ging von der Frage aus, wie müssen wir die Fläche organisieren, wenn wir im
gleichen Volumen vier Menschen oder nur einen unterbringen wollen. Ge-
meinsam sollte allen ein großer Wohnraum sein, gemeinsam die Eliminierung
des sogenannten Vorzimmers und die direkte Begehbarkeit des Schlafzimmers
vom großen Wohnraum aus.
Wir wollen vor allem uneingeengt wohnen können. Wir brauchen weder
große Küchen, noch große Schlafzimmer. Die Schweizer gingen so weit, bei
einzelnen Wohnungen die Küche überhaupt zu eliminieren und sogenannte
»Kochkapellen« in den großen Wohnraum zu legen. Diese Kochkapellen sind
verglaste schwebende Laboratoriumsschränke mit Abzug und Ventilation. Die
Schlafzimmer sind kabinenmäßig beschränkt, jedoch kann ihr Volumen — wenig-
stens an einzelnen Stellen — durch Schiebetüren des Nachts vergrößert werden.
Sympathisch berührt die ungeschmäcklerische Haltung. Es fehlt aber noch die
Kühnheit des Vorstoßes. Zwar gibt es ausgezeichnete Stühle und Tische mit
prachtvoller Zelluloselackbespritzung, aber es handelt sich dabei eben um die
Verbesserung des üblichen Typ. Konsequente Umwertungen, wie sie etwa
Mart Stam fertig bringt, indem er neue konstruktive Bedingungen konsequent
zu Ende denkt und dadurch den Stuhl ganz selbstverständlich auf zwei Beine
stellt anstatt auf vier, fehlen noch. Dabei darf man allerdings nicht vergessen,
daß in der Schweiz der Staat — der Bund — dem neuen Bauen teils miß-
trauisch, teils in vollendeter Ahnungslosigkeit gegenübersteht. Vieles konnte
Pariser Herbstsalon 1927]
Akt
In sechs übereinanderliegenden Wohnungen Mies van der Rohes versuchte eine
Anzahl Schweizer Architekten durch kollektive Zusammenarbeit sechs ver-
schiedenen Grundrißtjpen der neuen Mietswohnung näherzukommen. Man
ging von der Frage aus, wie müssen wir die Fläche organisieren, wenn wir im
gleichen Volumen vier Menschen oder nur einen unterbringen wollen. Ge-
meinsam sollte allen ein großer Wohnraum sein, gemeinsam die Eliminierung
des sogenannten Vorzimmers und die direkte Begehbarkeit des Schlafzimmers
vom großen Wohnraum aus.
Wir wollen vor allem uneingeengt wohnen können. Wir brauchen weder
große Küchen, noch große Schlafzimmer. Die Schweizer gingen so weit, bei
einzelnen Wohnungen die Küche überhaupt zu eliminieren und sogenannte
»Kochkapellen« in den großen Wohnraum zu legen. Diese Kochkapellen sind
verglaste schwebende Laboratoriumsschränke mit Abzug und Ventilation. Die
Schlafzimmer sind kabinenmäßig beschränkt, jedoch kann ihr Volumen — wenig-
stens an einzelnen Stellen — durch Schiebetüren des Nachts vergrößert werden.
Sympathisch berührt die ungeschmäcklerische Haltung. Es fehlt aber noch die
Kühnheit des Vorstoßes. Zwar gibt es ausgezeichnete Stühle und Tische mit
prachtvoller Zelluloselackbespritzung, aber es handelt sich dabei eben um die
Verbesserung des üblichen Typ. Konsequente Umwertungen, wie sie etwa
Mart Stam fertig bringt, indem er neue konstruktive Bedingungen konsequent
zu Ende denkt und dadurch den Stuhl ganz selbstverständlich auf zwei Beine
stellt anstatt auf vier, fehlen noch. Dabei darf man allerdings nicht vergessen,
daß in der Schweiz der Staat — der Bund — dem neuen Bauen teils miß-
trauisch, teils in vollendeter Ahnungslosigkeit gegenübersteht. Vieles konnte