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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 3
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Scheuermann, Wilhelm: Immer noch Morganismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0184

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und dort vorwiegend in der Beschaulichkeit kleiner Städte, führen sie noch ihr
friedliches Dasein und sehen nicht danach aus, als ob sie aussterben wollten.
Wie dieser Sammler aussieht, mag eine kleine Begegnung im Weltkriege er^
läutern. Die französische Bergstadt Laon lag unter dem Feuer der schweren Ge^
schütze ihrer Landsleute. Jeden Tag brachen Häuser ein und selbst die Kathedrale
hatte schon ein paar Schüsse abbekommen. Die Einwohner des am meisten ge^
fährdeten Viertels waren darum von der Oberwelt verschwunden und saßen einige
Stockwerke tief unter dem Pflaster. Denn der ganze Felsen, auf dem die Stadt
steht, ist mit zwei bis vier Stockwerke tief untereinander liegenden Kellerhöhlen
durchzogen, und da sie alle miteinander in Verbindung stehen, hatte sich ein
seltsames unterirdisches Gemeinschaftsleben entwickelt, bei dem man sich gegen^
seitig die böse Zeit nach Möglichkeit zu vertreiben suchte. Einer jedoch saß einsam
wie ein König und brauchte keine Unterhaltung durch die anderen. Ein alter
Herr, der in seinem Leben weit in den Kolonien herumgekommen war, hatte im
Schein der wechselnden Lichtquellen seiner Höhle den Aufbau einer neuen
Briefmarkensammlung begonnen. Seine große Sammlung, die einen Weltruf hatte,
war leider seit dem unseligen Jahre 1914 ins Stocken geraten, wo es keine Verbind
dung mit der Außenwelt mehr gab, wo die Post keine Tauschbriefe mehr ins Haus
bringen und abholen konnte. Aber hier in den Kellern lagen überall Bündel und
sogar Säcke voll Briefen, auf denen Marken klebten. Der Unwissende hätte ge^
sagt, die sind doch fast alle die ganz gewöhnlichen französischen Marken und
haben keinen Wert. Der geborene Sammler aber erkannte: In dieser Makulatur
steckt eine neue, noch nicht dagewesene Sammlung, und man muß sie nur heraus^
lösen wie die Venus von Milo aus einem plumpen Marmorblock. Er begann näm^
lieh eine Sammlung aller französischen Poststempel aufzubauen. Da wich die Enge
und Dunkelheit der bombensicheren Kerkerhöhle. Welche Freude, wieder einmal
durch die ganze Lichtstadt zu wandern, von einem Postamt zum anderen, durch
alle Arrondissements, und nun hinaus in die Vororte, nach Ville d'Avray, wo
jetzt wieder die Rosen blühten, und dann aus einem Departement ins andere!
Freilich klafften große Lücken an den Wanderstraßen und die Gleichnamigkeit
vieler Orte schuf Zweifel. Desto größer war dafür die Freude, so oft sich eine Lücke
schloß. Das profanum volgus der Nichtsammler gab sein Lächeln bald auf. Höch
stens verdächtigten sie diesen meisterhaften Bezwinger der Enge und Langeweile,
daß seinetwegen Krieg und Granatenhagel andauern könnten, bis seine Sammlung
fertig war. Das aber war eine ungerechtfertigte Unterstellung, denn jeder Sammler
weiß am besten, daß eine Sammlung niemals fertig wird.
Hier haben wir ein Urbild. Gewiß, es hätte ein schweres Geschoß einschlagen
und seine Mühe vernichten können. Aber wenn es ihn nur selbst verschont hätte, so
wäre das nichts anderes gewesen, als wenn er aus einem eben liebevoll erschlossenen
Reiselande verbannt worden wäre, während sich ihm zugleich hundert andere neue
Länder öffneten. Man darf nicht einwenden, daß er auf den Zufall der vielen vor der

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