Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (19.1927)

Abb. 4. Tizian

Die Kirschenmadonna
Staatsgalerie, Wien

in der Gestaltung der einzelnen Bildelemente. Im wesentlichen befindet sich,
was hier rechts ist, dort links und umgekehrt. Dies gilt von der Gruppe der
Madonna mit dem Kind, die auf beiden Bildern vor einem die Bildhälfte
einnehmenden Vorhang angeordnet ist, wie von dem landschaftlichen Aus-
schnitt im Hintergrund, in dem als gemeinsam insbesondere der in brauner
Farbe hingemalte, hochstämmige, dünnbelaubte Baum auffällt, der ähnlich auch
auf einem dem frühen Tizian zugeschriebenen Männerbildnis (O. Fischei, »Tizian«,
»Klassiker der Kunst«, Stuttgart und Leipzig 1925, Taf. 1) vorkommt. Be-
sonders enge berührt sich in beiden Bildern die Gruppierung von Mutter und
Kind: die Art, wie Maria das Christuskind umfaßt (dessen seitlich abgebogener
Kopf das Bestreben zeigt, das Nebeneinander Von Madonna und Kind kontrast-
reicher zu gestalten als dies bei der einfacheren »Zigeunermadonna« der Fall
ist) und das Aufstellen des auch bei der »Zigeunermadonna« und der »Kirschen-
madonna« von einem Tuch umflatterten Kindes auf eine Brüstung (wofür
gleichfalls die »Kirschenmadonna« als Beispiel herangezogen werden kann).
Auch die Figur des Christusknaben spricht in ihrer für Tizian so bezeichnen-
den plastischen Energie (die auf das Schroffste mit den schlappen Knäblein
Giorgiones kontrastiert) für die Urheberschaft des noch im Jünglingsalter stehen-
den Meisters.
Der einzige Künstler, an den man allenfalls noch einen Augenblick neben
Tizian als den Schöpfer dieses Bildes denken könnte, wäre Bonifazio di Pitati

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