Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 20.1928
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https://doi.org/10.11588/diglit.41322#0230
DOI issue:
Heft 6
DOI article:Wiese, Erich: Neue Arbeiten von Archipenko
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hier das Problem wieder praktisch, erfindet die »peinture mobile«. »Diese Er-
findung wird eine Umwälzung in der modernen Kunst hervorrufen; denn dies-
mal sind die bewegenden Kräfte greifbar, nicht bloße Vorspiegelung wie beim
Futuristen oder Kubisten.« Über diese Erfindung ist in europäischen Zeitungen
sensationell, aber unsachlich berichtet worden. Man wird sie hoffentlich bei
der großen Ausstellung, die Archipenko 1928 durch die Großstädte Europas zu
schicken gedenkt, auf ihre Bedeutung nachprüfen können. Inzwischen gibt
der Katalog einer Ausstellung, die jetzt durch Amerika wandert, Aufschlüsse
über die sonstige künstlerische Tätigkeit des Bildhauers in Amerika. In einigen
der (in Photos und Reproduktionen vorliegenden) Arbeiten haben die in den
Zeichnungen der letzten europäischen Jahre schon in Angriff genommenen
Probleme plastische Gestalt gewonnen. Die Übersteigerung des Körperlichen
im einzelnen und seine Bindung in die Einheit einer monumentalen Kom-
position zeigt die Gruppe zweier Frauen, stärker vielleicht noch die aus
drei Figuren aufgebaute Gruppe »Das Ende«. Diese »Bozzetti« haben etwas
von der Wucht ihrer barocken Vorgänger. Die Idee der plastischen Dar-
stellung des Umraums, der Luft, und zwar da, wo eine Betonung der Form
beabsichtigt wird, ist folgerichtig und wirkungsvoll in einer Bronzebüste: An-
gelica (Variation 6) sichtbar gemacht. Neben solchen neuen Schritten, die von
Figurenbildern gleicher Absicht begleitet werden, entstehen nach wie vor
schönlinige Konkavkörper, bei denen die Melodie der Umrisse und Binnen-
formen ebenso berauscht wie die seidige Politur der Oberfläche und die Sprache
des Materials. Der Weg birgt die Gefahr der Schematisierung der Form in sich.
Aber die Vitalität dieses unbändigen Bildhauers schleudert sie mit ungestümen
Taten von sich. Die Dirigentenporträts von Mengelberg und Furtwängler
sind solche. Hier ist Rodin nicht mehr im Spiel (ein Vergleich lehrt, wie
»klassisch« er dagegen war), dennoch die Impression; aber sie ist plastisch so
auf das Expressive zusammengedrängt, daß man angesichts dieser Bildnisse von
einer restlosen Verschmelzung beider Kunstabsichten mit dem Ergebnis ge-
steigerter Verlebendigung sprechen darf. Nach Kurven von solchem Ausschlag,
mögen sie scheinbar abirren von dem »der Ordnung zuliebe« mit scharfem
Verstand vorgeschriebenen Normalweg der Entwicklung, nach solchen Lei-
stungen darf man auf weitere begierig sein. Bewegung fördert.
Die Aufnahmen der wiedergegebenen Arbeiten stammen von Stephen G. Cleveland,
New York.
Robert Genin. Akte
200
findung wird eine Umwälzung in der modernen Kunst hervorrufen; denn dies-
mal sind die bewegenden Kräfte greifbar, nicht bloße Vorspiegelung wie beim
Futuristen oder Kubisten.« Über diese Erfindung ist in europäischen Zeitungen
sensationell, aber unsachlich berichtet worden. Man wird sie hoffentlich bei
der großen Ausstellung, die Archipenko 1928 durch die Großstädte Europas zu
schicken gedenkt, auf ihre Bedeutung nachprüfen können. Inzwischen gibt
der Katalog einer Ausstellung, die jetzt durch Amerika wandert, Aufschlüsse
über die sonstige künstlerische Tätigkeit des Bildhauers in Amerika. In einigen
der (in Photos und Reproduktionen vorliegenden) Arbeiten haben die in den
Zeichnungen der letzten europäischen Jahre schon in Angriff genommenen
Probleme plastische Gestalt gewonnen. Die Übersteigerung des Körperlichen
im einzelnen und seine Bindung in die Einheit einer monumentalen Kom-
position zeigt die Gruppe zweier Frauen, stärker vielleicht noch die aus
drei Figuren aufgebaute Gruppe »Das Ende«. Diese »Bozzetti« haben etwas
von der Wucht ihrer barocken Vorgänger. Die Idee der plastischen Dar-
stellung des Umraums, der Luft, und zwar da, wo eine Betonung der Form
beabsichtigt wird, ist folgerichtig und wirkungsvoll in einer Bronzebüste: An-
gelica (Variation 6) sichtbar gemacht. Neben solchen neuen Schritten, die von
Figurenbildern gleicher Absicht begleitet werden, entstehen nach wie vor
schönlinige Konkavkörper, bei denen die Melodie der Umrisse und Binnen-
formen ebenso berauscht wie die seidige Politur der Oberfläche und die Sprache
des Materials. Der Weg birgt die Gefahr der Schematisierung der Form in sich.
Aber die Vitalität dieses unbändigen Bildhauers schleudert sie mit ungestümen
Taten von sich. Die Dirigentenporträts von Mengelberg und Furtwängler
sind solche. Hier ist Rodin nicht mehr im Spiel (ein Vergleich lehrt, wie
»klassisch« er dagegen war), dennoch die Impression; aber sie ist plastisch so
auf das Expressive zusammengedrängt, daß man angesichts dieser Bildnisse von
einer restlosen Verschmelzung beider Kunstabsichten mit dem Ergebnis ge-
steigerter Verlebendigung sprechen darf. Nach Kurven von solchem Ausschlag,
mögen sie scheinbar abirren von dem »der Ordnung zuliebe« mit scharfem
Verstand vorgeschriebenen Normalweg der Entwicklung, nach solchen Lei-
stungen darf man auf weitere begierig sein. Bewegung fördert.
Die Aufnahmen der wiedergegebenen Arbeiten stammen von Stephen G. Cleveland,
New York.
Robert Genin. Akte
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