Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (20.1928)

Abb. 1. Michele da Verona Meleagers Schicksals weihe
New York, Durlacher

SECHS BILDER AUS DEM MELEAGER-MYTHUS
VON PAUL SCHUBRING
Die Schicksale des Meleager und der Atalante sind uns an zwei Stellen über-
liefert: in der Ilias 9, 430 — 605 erzählt Phoinix dem zürnenden Achill die
Geschichte des Meleager, der auch seinen Zorn vergessen habe; ausführlicher
bietet dann Ovid Met. 8, 2 70 ff. die ganze Meleagersage von der Jugend bis zu
seinem Tod (vgl. auch Ovid ars am. 2, 185ff. in bezug auf Atalante). Meleager
ist der Sohn des Königs Oineus in Kalydon in Aitolien und der Althaia, der
Tochter desThestios (Meleagers Frau Alkyone oder Cleopatra kommt in unseren
Bildern nicht vor). Als der Knabe sieben Tage alt war, brachte die Mutter ihn
zu dem Altar, auf dem Scheithölzer brannten; die drei Parzen traten herzu und
kündeten, der Knabe werde nur solange leben, als die Holzscheite brennen.
Deshalb riß die Mutter Althaia ein Holzscheit vom Feuer weg und legte es in
eine Truhe (Abb. 1). Nun hatte der König zwar der Ceres die Ähren, dem Bacchus
den Wein, der Minerva das 01 geopfert, nicht aber der Diana gehuldigt; solas
sine ture relictas praeteritae cessasse ferunt Latoidos aras (Abb. 2). Die er-
zürnte Göttin schickt einen mächtigen Eber ins Land, der die Fluren verwüstet,
in die Herden bricht und auch die Menschen mit Entsetzen erfüllt. Die mäch-
tigsten Helden machen sich auf, das Untier zu töten: Castor und Pollux, Jason,
Peirithoos, Theseus, Idas, Leukippus, Phönix, Phyleus, Peleus, Iolaos, Eurytion,
Nestor und viele andere; aber erst Meleager gelingt es, dem wild wütenden Tier
den Fang zu geben, unterstützt von Atalante, der Tochter des Jason und der

22 Der Cicerone, Jahrg. XX, Heft 9

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