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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 20.1928

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Heft 21
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Zülch, Walther Karl: Eine neue Deutung des Isenheimer Altars
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https://doi.org/10.11588/diglit.41322#0732
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EINE NEUE DEUTUNG DES ISENHEIMER ALTARES

Aus der Fülle von Deutungsversuchen, die der
Isenheimer Altar hervorgerufen hat, war die
eine Frage schließlich einstimmig bejaht wor-
den: daß dieser größten Schöpfung deutscher
Malerei ein zentraler Gedanke zugrunde liege.
Daß die dramatische Bühne dieses größten al-
ler Wandelaltäre, aus höchster Leidenschaft,
Farbe und Licht geboren, sich um den Dreh-
punkt einer schöpferischen Idee bewege: Die
Erlösung der Menschheit. Da dieser Erlösungs-
altar bestimmt war für einen Ort tiefsten
menschlichen Elendes, für das Seuchenhospi-
tal des Isenheimer Antoniterklosters, war die
Angliederung der Seuchenpatrone aus der Or-
densgeschichte: St. Antonius und St. Seba-
stian lokal bedingt. Eine Dreigliederung des
Altares ergab sich aus der zweifachen Öff-
nungsmöglichkeit. Der geschlossene Altar zeigte
das Golgathabild in der Mitte, unten die Pre-
della der Beweinung Christi, auf Seitenflü-
geln links und rechts die Heiligen Antonius
und Sebastian. Die beiden heiligen Helfer von
dem Erdenleid, das die Kranken des Spitalklo-
sters belastete, flankierten den Welterlöser tod
Christi. Einmal geöffnet ergab sich eine nicht
leicht unter einem Gedanken erfaßbare Bil-
derreihe: als Mitte die als Weihnachtsbild be-
kannte viel umrätselte Zweiheit aus Engelkon-
zert und Maria mit dem Christkind, dazu als
linker Flügel die Verkündigung, als rechter
Christi Auferstehung; als Predella unten wie-
der die Beweinung. Zum zweiten Male geöff-
net zeigt der Mittelschrein plastisches Bild-
werk: den tronenden St. Antonius mit St.
Hieronimus und Augustinus, knieend den Stif-
ter der Plastik und opfernde Bauern. Die Pla-
stik der geöffneten Predella zeigt Christus mit
seinen Jüngern. Flankiert wird diese Plastik
von zwei gemalten Flügeln: links die Eremi-
ten Paulus und Antonius, rechts die Versu-
chung des Antonius.
Für dieses technisch dreigeteilte Altarwerk
war die liturgische Zweckbestimmung seines
Aufbaues zu finden, das einzelne Bild und der
Zusammenschluß in drei Gruppen zu erklä-
ren, schließlich das geistige Motiv des ganzen
Werkes aufzudecken. Ein Letztes wäre es dann,
den liturgischen Aufbau mit der künstleri-
schen Formung als eine große Einheit zu er-
kennen, mit anderen Worten, den geistlichen
Inspirator und den ausführenden Künstler zu-
sammenwachsen zu sehen.
Eine prinzipielle Frage von entscheidender Be-
deutung ist diese: Ist der Isenheimer Altar
mariologisch oder christologisch zu deuten?
6q6

Diente er der Verherrlichung der Maria oder
Christus? Als eine Verherrlichung Mariens hat
der letzte entscheidende Ausdeuter II. Feur-
stein den Isenheimer Altar erkannt. (Beitrag
zur Geschichte der deutschen Kunst, Augs-
burg 192.4.) Im Gegensatz zu früheren Erklä-
rern, die aus einer bunten Aielheit von Text-
stellen schöpften, konnte Feurstein eine lite-
rarische Quelle aufdecken, die Meister Mathias
gelesen hat und aus der seine Idee des Isen-
heimer Altares herauswuchs. Die „Offenba-
rungen der heiligen Brigitta von Schweden“
waren i5o2 in deutscher Übersetzung bei Ko-
berger in Nürnberg erschienen. Das Aufsehen-
erregende und die Geister der Zeit auf rüt-
telnde dieses Hohenliedes von der Maria als
gehorsames Werkzeug des göttlichen Rat-
schlusses der Erlösung lag nicht zuletzt
in der zeitgemäßen Lobpreisung Mariens als
Schützerin der bedrohten Kirche. In einer
Zeit, da die innere und äußere Entfernung der
katholischen Kirche vom reinen Evangelium,
da die drückende Verweltlichung und Entsitt-
lichung des Klerus alle Gemüter tief erregte.
Daran kann kein Zweifel mehr bestehen, daß
die mariologischen Visionen der Brigitta bis in
faszinierende Einzelheiten vom Meister Ma-
thias im Isenheimer Altar — und in der Stup-
pacher Maria — versinnbildlicht wurden.
Ausgehend von jenem rätselhaften Tympa-
non über der Türe des Tcmpelchens im Engel-
konzert erklärt Feurstein den Sinn jedes ein-
zelnen Bildes und den Zusammenschluß der
Bildfolgen zur höheren Einheit an der Hand
des Brigittenbuches von i5o2. Feurstein deu-
tet das Tympanonrelief als Abraham, der die
ihm erteilte Marienverheißung auf seinen Sohn
Isaak überträgt. Die Bildfolge des Isenhei-
mer Altares ist die Abwandlung der Marien-
verherrlichung, Mariens Gang durch die Jahr-
tausende der Heilsgeschichte.
Bei dieser ausschließlich mariologischen Deu-
tung Feursteins fehlt aber der logisch zu er-
wartende Abschluß: die Marienkrönung. Schon
hier zeigt sich, daß die ausschließlich mario-
logische Tendenz nicht in der Absicht des
Schöpfers des Isenheimer Altares gelegen hat,
so sehr er im einzelnen im Banne der Brigit-
tenoffenbarung gestanden hat, als er seit etwa
i5o6 am Isenheimer Altar arbeitete. Auch die
von Feurstein gefundene Einteilung des Al-
tares in Passionsthema — Festthema — Kir-
chen und Ordensheilige kann nicht befriedi-
gen, weil sie unliturgisch ist.
Das große und entscheidende Verdienst Feur-
 
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