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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 20.1928

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Heft 11
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Bloch, Vitale: Die "kleine Briefleserin" des Vermeer
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https://doi.org/10.11588/diglit.41322#0387
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DIE »KLEINE BRIEFLESERIN« DES VERMEER
VON VITALE BLOCH
Das Auftauchen eines neuen Vermeer ist stets ein Ereignis. Der »Fall« Ver-
meer erscheint uns als etwas Übernatürliches — selbst nach den vielen For-
schungsarbeiten französischer, englischer, holländischer, deutscher, österreichi-
scher und skandinavischer Schriftsteller. In der europäischen Malerei des 17. Jahr-
hunderts — vielmehr in der gesamten Geschichte der neuen Malerei — von
Caravaggio bis Tiepolo, gibt es für Vermeer keine Parallel-Erscheinung, nichts,
was ihm gleich wäre. Vermeer ist ein Wunder, und um so größer erscheint
uns dieses Wunder, je deutlicher wir uns die Zeit und die Umgebung ver-
gegenwärtigen, in denen er lebte und wirkte.
Die »Kupplerin« der Dresdner Galerie trägt das Datum 1656. In dieser ersten
Hälfte des Jahrhunderts hatten die holländischen Meister bereits einen ruhm-
reichen Weg der Entwicklung zurückgelegt, auf den sie mit Stolz blicken
konnten. Alle Themen schienen erschöpft: das Landschaftsbild in Licht und
Luft aufgelöst, tote Gegenstände unnachahmlich belebt, die Kleinigkeiten
des Alltags bis ins feinste Detail wiedergegeben. So führten »Landschaft«,
»Genrebild« und »Stilleben« eine in sich abgeschlossene, an Nuancen reiche
Existenz. Aber nicht nur neue Gattungen der Malerei waren geschaffen —-
auch die Kernprobleme der holländischen Tonmalerei wurden in diesen Jahr-
zehnten gelöst, die vollkommenste Ausdrucksform für sie gefunden. Es war
Rembrandt und Hals noch beschieden, einige hervorragende Kunstwerke zu
schaffen, weise und überlegen, abgeklärt in ihrer ultima-maniera, aber in
völliger Abgeschiedenheit, ohne jeden Konnex mit der sie umgebenden Kunst.
Denn zu dieser Zeit hatte Rembrandt keine Lehrlinge mehr — mit Ausnahme
von Aert de Gelder -— und auch die alten Schüler, die seine Werkstatt zu
besseren Zeiten gekannt hatten, wandten sich von ihm ab und vertauschten
die dunkle und die claire-obscure Palette ihres Lehrers gegen die helle, aka-
demische, die mehr dem Geschmack der damaligen Zeit entsprach. Das in
seinem Endergebnis so tragische Beispiel von Flinck und Lievens, die sich der
allegorischen und heroischen Malerei zuwandten, war durchaus nicht ver-
einzelt. Die gesamte holländische Malerei machte volte-face; sie sagte sich los
von ihrem besten Sohn.
In dieser bedeutungsvollen Übergangszeit, als die holländische Tonmalerei sich
gerade auf dem Scheidewege befand und erfolglos die Prinzipien des braunen
Tons und der irrationalen Lichtgebung verteidigte, und gerade noch einen
köstlichen, aber seiner Natur nach schon hybriden Carel Fabritius hervor-
gebracht hatte — entstand das Phänomen des Vermeer. Ein Phänomen, weil
in der ganzen Zeit, zu Lebzeiten und nach dem Tode Rembrandts er die ein-
zige prinzipiell völlig neue Erscheinung in der holländischen Kunst bedeutete.
Kein Erzeugnis der Dekadenz, sondern ein malerischer Ausdruck gänzlich
anderer Elemente des Landes — nicht geistiger, sondern materieller Natur.
Es ist schwer seiner künstlerischen Genealogie nachzuforschen, schwer, die
verschiedenartigen Einflüsse ausfindig zu machen, die auf ihn eingewirkt haben.
Wie man sich aber zu der Annahme, Fabritius sei der Lehrer von Vermeer ge-

26 Der Cicerone, Jahrg. XX, Heft 11

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