Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 20.1928
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https://doi.org/10.11588/diglit.41322#0324
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Heft 9
DOI article:Schubring, Paul: Sechs Bilder aus dem Meleager-Mythus
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Abb. 2. Michele da Verona Oineus opfert der Diana nicht
New York, Durlacher
Klymene aus Schoineus in Arcadien, die von einer Bärin gesäugt und eine kühne
jungfräuliche Jägerin geworden war (Abb. 5). Der ritterliche Meleager gab der
kühnen Jägerin, die dem Tier die erste Wunde beigebracht hatte, den Kopf des
Ebers als Siegespreis (Abb. 4). Das ertrug der Stolz der drei Brüder der Althaia,
also der Onkel des Meleager nicht; sie griffen den Neffen an, Meleager tötete
alle drei. Althaia, zwischen Schwesternliebe und Mutterliebe kämpfend, holte
schließlich das schicksalbringende Holzscheit aus der Truhe und legte es in die
Flamme des Herdes — ihr Sohn stirbt augenblicklich (Abb. 5). Diana ist ver-
söhnt, ihr huldigen reuig König Oineus und freudig Atalante, hinter der schon
die Freier knien, die mit ihr den Wettlauf wagen wollen; einer derselben ist
wahrscheinlich Meilanion (Abb. 6).
Diese Geschichte ist in den sechs Bildern erzählt, die Durlacher in New York
ausgestellt hat. Zwei Tafeln (Nr. 2 u. 3) sind länger (1 25X68 cm), die anderen
vier schmäler (106X68 cm). Das können also schwerlich Truhenbilder ge-
wesen sein; wahrscheinlich waren die sechs Bilder in der Wand des Schlaf-
zimmers eingelassen. Wie kam die junge Frau dazu, sich diese wilde und trau-
rige Geschichte zur Hochzeit malen zu lassen?
Wir haben in einem früheren Artikel des Cicerone davon erzählt, wie in
Verona der große Humanist Vittorino da Feltre der Lehrer der Jünglinge und
Mädchen aus den vornehmen Häusern war, mit welchen jungen Menschen der
allverehrte Meister eifrig Ovid gelesen hat1. Die Geschichte der Atalante hat
häufig die Pinsel der Cassonemaler beschäftigt, da der Widerstreit der jung-
fräulichen Jägerin zwischen Jagd und Liebe und der schließliche Sieg der Frau
Venus über die kühle Diana jener Mädchen eigene Schicksale und Herzens-
gedanken tief berührte. Da Atalantes Geschick mit der Geburt des Parthenopaios
1 Vgl. Cicerone 1927, Heft 18 (Schubring, Zwei Bilder der Atalante-Sage).
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