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Freitag, den 13. Ziiti
ISO«.
Ein Brief aus der deutschen Gesandtschaft
in Peking.
Von dem zur deutschen Gesandtschaft in Peking
kommandirtcn Leutnant L. 1a suits des Dragonerregiments
Nr. 8 v. Loesch ist ein vom 28./29. Mai 1900
datirtes Schreiben an die Angehörigen dieses Offiziers in
Ober-Stephansdorf gelangt. Wir entnehmen diesem der
Schles. Ztg. zur Verfügung gestellten Briefe folgende Mit-
theilungen über die Lage in Peking gegen Ende Mai:
Den 28. Mai. „. . . Ganz harmlos schrieb ich gestern die
ersten Seiten dieses Briefes, dann kam Below (erster Sekretär)
und holte mich ab zu einem Besuch bei einem Schweizer, Jean
Renaud, der Teppiche machen läßt. Nach dem Lunch lag ich auf
dem Bett und schlief. Zu meiner Verwunderung hörte ich mehr-
mals in meinen Träumen vom Garten die Stimme unseres Ge-
sandten. Um 5 Uhr ging ich zum Tennis. Im Thorwege stand
ein deutscher Maschineningenieur der Bahn nach Pauttngsu. Ich
hörte, wie er sagte: «Es ist kein Zug angekommen".
Da merkte ich, daß die Boxer sich wieder rührten. Ich schrieb
Wohl schon von Tientsin aus über die Boxer, und daß sie ein
Dorf angegriffen hätten. Die Boxer sind eine geheime Gesell-
schaft, die ihre Spitze sowohl gegen die gegenwärtige Mandschu-
Dynastie wie gegen die Christen und die Fremden überhaupt
richtet. Unterstützt wird sie dadurch, daß im Lande zur
Zeit grobe Unzufriedenheit herrscht, vornehmlich
wegen der Mißernte, die das Ausbleiben des Regens
voriges Jahr bewirkte, dann auch wegen des Staats-
streiches, der Absetzung des Kaisers, letzteres vornehmlich im
Süden des Landes.
Als wir zum ersten Mal von Tientsin nach Peking fuhren,
wurde gerade ein Kavallerieregiment verladen, das gegen die
Boxer ziehen sollte. Die Boxer wurden auch zerstreut, und alles
war fünf Wochen ruhig. Doch wurden fortwährend aufreizende
Flugblätter vertheilt. Die Gesandten beschwerten sich beim
Tsungli-Iamen (der Behörde, mit der die fremden Mächte ver-
kehren, eine Art Mintsterrath), daß man Plakate an den Straßen-
ecken duldete, in denen zur Ermordung der Fremden aufgefordert
wurde. In anderen Plakaten wurden die Chinesen gewarnt,
Nicht mehr mit der Bahn zu fahren, da nächstens ein Unglück
geschehen würde. Die Regierung versprach, alle solche Plakate
entfernen zu lassen.
Es wird jetzt an der Bahn gebaut, die die Belgier von
Peking nachHankau am Jangtse bauen. Sie trifft die
Bahn Peking—Tientsin bei der ersten Station, etwa 20 Kilometer
von Peking, und ist bis Pautingfu, der Hauptstadt der
Provinz Tschili, in der Peking liegt, fertig. Zwischen
Pautingfu und Peking sitzen die Boxer haupt-
sächlich. Vor etwa vierzehn Tagen wurde ein Christendorf,
25 Kilometer südwestlich von Peking, von den Boxern überfallen
und über siebzig Christen ermordet, die meisten in der Kirche
verbrannt, ich glaube auch ein eingeborener Geistlicher. Dies
geschah, während wir zu den Rennen in Tientsin waren. Als
wir zurückkameu. fanden wir hier eine eigenthümliche Spaltung
vor. Die Franzosen und Russen thaten, jedenfalls aus
Politischen Gründen, furchtbar erschrocken — die Russen gingen
nur noch mit Gewehren über die Straße — während die
Engländer wieder thaten, als wäre nichts passirt. Jeden-
falls wurde eine energische Note an's Tsungli-
Namen gerichtet. Merkwürdig ist, daß gerade alte
Chinakenner sehr besorgt sind. Monseigneur
Favier, apostolischer Vikar und Bischof von Peking, hat erklärt,
daß in den 35 Jahren, wo er hier ist, die Lage
noch nie so ernst gewesen wäre, auch nicht vor dem Blut-
bade von Tientsin 1370. Er sagte zu dem belgischen Gesandten,
er wisse, erst wollten die Boxer die Christengemeinden außerhalb
der Stadt zerstören, dann den Petang (die katholische Nieder-
lassung in Peking) und zwei Tage darauf die Gesandtschaften.
»Nun wohl, sagte Monsieur Joostens, »dann werden wir ja
ganz genau wissen, wann wir zu fliehen haben". Der Vicelönig
von Tientsin schickte Truppen aus, sie fielen in einen Hinterhalt,
und es wurden siebzig und der Oberst getödtet. Es wurde
damals erwogen, ob man, wie schon einmal,
Truppen zum Schutz d e r Gesandtschaft landen
sollte. Ketteler war sehr dagegen, und die Fran-
zosen, die es gern gethan hätten (Monsieur Pichon, der
französische Gesandte, weinte in der Gesandtenkonferenz),
fügten sich. Dabei spielte mit, daß das diplomatische Korps
gern in die Sommerfrische und ins Seebad möchte, und daß wir
dann jedenfalls nicht weg könnten. Am Sonnabend gab es
wieder allerhand Gerüchte. Ein Herr v. Broele, ehemaliger
Offizier, jetzt Lehrer an der Universität hier, siedelte mit seiner
Familie aus seiner Wohnung in die Mandschustadt ins Hotel
über, das uns gerade gegenüber liegt, und schrieb die alarmirend-
sten Briefe an den Gesandten. Wir ließen uns dadurch so wenig
stören, daß wir Sonntag früh zu vier Mann mit dem zweiten
Dolmetscher, Dr. Merkltnghaus, in die Stadt fuhren. Wir
gingen dann stundenlang durch die engsten Straßen und das
dickste Menschengewühl, ohne einem unfreundlichen Blick zu be-
gegnen. Die Chinesen find eigentlich ein freundliches Volk, und
wenn man nur irgendwie mit ihnen sich beschäftigt, lachen sie.
Montag früh haben die Boxer einen Angriff auf
die belgische Bahn gemacht. Das europäische Per-
sonal floh nach Peking, ein Ingenieur ist schwer verwundet
worden. Dann besetzten sie den Knotenpunkt der Bahnen.
Das Personal floh auf einer Maschine nach Tientsin. Es
ist gestern kein Zug angekommen. Die Boxer sollen auch
eine Brücke zerstört haben. Diese Nachrichten wurden hier
Nachmittags bekannt. Als ich im Halbschlummer die Stimme
unseres Gesandten hörte, gab er eben Befehl» die sechs
Winchestergewchre, die wir zu unserem Schutze haben, heraus-
zuuehmen. Wir spielten Tenui» wie gewöhnlich mit der Mar-
chesa-Salvago, doch war der Platz sonst verlassen. Im Klub
war die Aufregung groß. Ich bin überzeugt, dag zwei Drittel
der Europäer geflohen wären, wenn nicht die Bahn in den
Händen aer Aufständischen gewesen wäre. Gegen Abend war
Gesandtenkonferenz. Es wurde beschlossen,
daß die acht Staaten, die Kriegsschiffe hier
haben, Detachements von mindestens fünfzig
Mann zum Schutze kommen lassen sollen. Um
acht Uhr fing es an zu regnen und die Luft war herrlich kühl.
Als ich zum Essen ging, saß Bergen (der zweite Gesandtschafts-
sekretär) noch im Tennisanzuge und chiffrirte eine Depesche nach
Tsintau. Auch nach Berlin an den Geschwaderchef u. s. w.
gingen endlose Depeschen ab.
Nach Tisch gingen wir zum Gesandten. Er erzählte uns, daß
eben die Nachricht von der Ermordung Junglüs ge-
kommen sei. Junglü war ein Neffe der Kaiserin-Regentin, zur
Zeit des Staatsstreichs Vizekönig von Tientsin und seither Ge-
neralissimus der Armee und sehr fremdenfeind-
lich. Der Hof residirt zur Zeit nicht in Peking, sondern auf
den Sommerpalästen im Norden der Stadt. Wir gingen
noch in's Hotel, um ein Glas Bier zu trinken. Auch hier war
alles zur Verlheidigung eingerichtet. Vor jeder Gesandtschaft
war eine Abthetlung Kavallerie mit langen Lanzen abgesesfeu.
Die Aufregung in Tientsin mag schön sei», wo man ohne Nach-
richten von hier ist. Hoffentlich tclcgraphirt man keine zu wilden
Sachen nach Europa. Die Nacht verlief ruhig und war pracht-
voll kühl. Bis jetzt hat man keine neuen Nachrichten. Ich wollte
heute früh nach Machiaffu (dem Bahnhof von Peking) heraus-
reiten, der Gesandte verbot es mir aller."
Den 29. Mai: „Der gestrige Tag verlief ruhig. Der Ge-
sandte sagte mir, ich müsse, wenn morgen wieder keine Post ginge,
mit seinen Briefen nach Tientsin retten, begleitet von einigen
Reitknechten. Stach Tientsin ist zwei Tage zu reiten. Der Auf-
trag war nicht ganz ungefährlich, aber sehr interessant. Nach-
mittags kam aber ein Zug an. Heute geht die Post ab. Bergen
soll den Depeschenkasten bis Tientsin bringen und dort warten,
bis das Marinedetachement ankommt. Es liegen schon mehrere
Kriegsschiffe vor Taku. Gestern Abend war vor dem Hotel ein
merkwürdiges Schauspiel; mehrere von den Ingenieuren der
belgischen Bahn, die am 27. früh direkt von der Arbeit weg nach
Peking geflohen waren, waren, begleitet von einigen hiesigen
Herren, ausgczogen, um ihre Frauen und Kinder abzuholen, die
zurückgeblieben waren. Diese hatten sich in ihren Häusern ver-
schanzt und hatten den Tag und die Nacht ungefährdet, aber in
Angst verbracht. Jetzt wurden sie in Karren in's Hotel gebracht,
daneben schritten die Männer, staubbedeckt, Flinten umgehängt,
es sah aus wie ein Zug von Auswanderern im fernen Westen.
Die Menge drängte gewaltig nach; da ergriff der Hotelbesitzer
seine Feuerspritze und richtete den Strahl auf die Menge; im
Nu war sie verschwunden.
Bet uns wird eifrig daran gearbeitet, die leeren Zimmer im
Burcauhausc für das Martnedetachement in Stand zu setzen.
Sonnabend wird es wohl eintreffen. Es scheint, daß die Nach-
richt von der Ermordung Junglüs nicht wahr ist. Die Regierung
bittet händeringend, doch j, keine Truppen zu landen, es wird
ihr aber nichts nützen . . ."
Die Vorgänge in China.
Die Lage der europäischen Truppen in Tient-
sin wird immer bedenklicher. Es liegen darüber folgende
Telegramme vor:
Tientsin, 12. Juli. Wie das Bureau Reuter
meldet, besteht zwischen den Befehlshabern der ver-
einigten Truppen allgemein der Wunsch, mit
einander zu cooperiren. Ein wirksames Vorgehen der
Vereinigten sei aber durch den Mangel an Zusammen-
schluß beeinträchtigt. Der Vortheil der Lage bei
den Operationen der letzten Woche sei im Ganzen auf
Seiten der Chinesen gewesen, deren Artillerie
derjenigen der europäischen Truppen an Güte über-
legen sei.
Tientsin, 12. Juli. Der chinesische General Ma
hat nach dem Daily Expreß nach sechsstündigem
Kampfe das Zeughaus östlich von Tientsin am
6. Juli wieder genommen und den Vertheidigern
schwere Verluste beigebracht. Der japanische
Kommandant verlangte eiligst Verstärkungen.
Tschifu, 12. Juli. Das Artilleriegefecht in
Tientsin dauert noch an. Die chinesischen Ge«
schütze sind so gut maskirt, d«ß die Vereinigten große
Schwierigkeiten haben, deren Standorte festzustellen.
Wie man aus dem Obenstehenden ersieht, ist die
Situation, die schon seit einigen Tagen als sehr bedenklich
bezeichnet wurde, inzwischen noch bedenklicher geworden.
Die Vertheidigung von Tientsin wird als außerordentlich
schwierig bezeichnet, da die Stadt sehr ausgedehnt ist und
die für die Vertheidigung in Betracht kommenden Terrain-
abschnitte unübersichtlich sind und ungeschickt liegen. Viel-
leicht kommen die japanischen Verstärkungen, die schon in
Taku avisirt sind, rechtzeitig an, um den Europäern die
Behauptung Tientsins zu ermöglichen.
Die Lage der Dinge in Peking wird gegenwärtig in
London wieder sehr pessimistisch angesehen. Man hebt für
letztere Anschauung hervor, daß trotz der hohen Summen,
die für europäische Nachrichten aus Peking geboten woroen
seien, seit Harts Depesche, seit 18 Tagen keine europäische
Silbe von dort verlautet, daß am 24. Juni nur mehr für
3 Tage Lebensmittel Vorlagen und daß deren Haup.nieder-
lage verbrannt war. Man legt auch dar, daß alle neueren
chinesischen Depeschen nur durch das Gaukelspiel der Be-
amten mit dem Kalendcruntcrschied einen günstigen Schein
erhalten, denn der 5. Juli chinesischen ist der 1. Juli
unseres Stils. Dazu kommt der weitere Abzug von
mindestens vier Tagen für die Reise des Besten. Das
neuerliche kaiserliche Edict an die Gesandtschaften rührt nach
einer Meldung des Daily Expreß aus Shanghai nicht vom
Kaiser Kwangsue, sondern von dem Usurpator Tuan her
und trägt die Ausfertigung vom 29. Juni, ist also vor
dem Tage des Gemetzels abgefaßt, das sich in der Nacht
vom 30. Juni auf den 1. Juli zugetragen haben soll.
Nach einer Meldung der Daily Mail sind auch die ge-
wöhnlich ausgezeichnet unterrichteten Jesuiten in Shanghai
bestimmt der Ansicht, daß die Pekinger Europäer sämmllich
todt seien. Auch die abermalige kategorische Entbictung Li-
Hung-Tschangs nach Peking geschah, wie man glaubt, um
die Pekinger Machthaber wegen der Gesandtenmorde aus
der Klemme zu ziehen. Das angebliche Rundschreibe., der
Kaiserin vom 30. Juni an die Mächte wird in Shaugyai
nicht für echt gehalten.
Auch iu der Gegend von Niutschwang in der
Mongolei gegen Korea hin, in welcher der russische Ein-
fluß sich geltend zu machen bestrebt, wird es mehr und
mehr unruhig. Laut Mittheilungen des Reuter'schen Bu-
reaus aus Niutschwang vom 9. ds. sind Frauen und
Kinder angekommen. Wie berichtet wird, treffen täglich
Boxer in Niutschwang ein und halten in der Staat
militärische Hebungen ab. Die russische Niederlassung, die
drei Meilen oberhalb der Stadt gelegen ist, rüstet sich zum
Widerstande für den Fall eines Angriffes.
Die Irre von Sankt Rochus.
Kriminalroman von Gustav Höcker.
27) (Fortsetzung.)
Allram besaß vollauf, was er brauchte, und für seine alten
Tage war gesorgt; aber es war ihm Bedürfniß. immer auf
irgend einer Fährte zu sein; ohne diese Aufregungen erschien
wm das Leben leer, und hierin ähnelte er dem schaffenden
Künstler, der sich stets mit Ideen trägt und ohne diesen
Nervenreiz nicht leben kann.
Die Gläubiger des verschwundenen Bankrotteurs Sexauer
hatten den Detektiv wiederholt angegangen, die Verfolgung
?es Flüchtlings aufzunehmen, zumal sich das Gerücht, er sei
W Kairo, hartnäckig ausrecht erhielt, und Allram dafür be-
rühmt war. schon manchen Verbrecher aus einem sicheren
Asyle herausgelockt zu haben. So beschloß er denn, jener
?" ihn ergangenen Aufforderung nachzukommen, nachdem
seine Thätigkeit für die Irre von St. Rochus einen so un-
erwarteten Abschluß gefunden hatte, und traf seine Vorbe-
reitungen zur Reise nach der Hauptstadt Aegyptens, wie der
vollgepackte Reisekorb bewies. . . .
- Als ihn die Baronin verlassen hatte, erschien Frau
Schubert wieder mit Ausklopfer und Teppichen.
.. »Nun will ich die Droschke bestellen." bemerkte sie, als
?w Teppiche ihre Plätze wieder erhalten hatten; „auf morgen
lrüh vier Uhr, sagten Sie, nicht wahr?"
... Der Detektiv räusperte sich verlegen,
mnfig noch sein, Frau Schubert. Es
v>cht reise."
- „Was sagte ich?" frohlockte die Alte. »Sagte ich nicht,
«>e bätten's beniest? Nun lachen Sie mich nur nicht mehr
ous, Herr Allram, weil ich an Vorzeichen glaube. DaS Be-
lassen Sie's vor-
ist möglich, daß ich
niesen ist ein Prophet, der niemals trügt, — mit oder ohne
Seife in der Nasel"
In seinem mit ländlicher Einfachheit ausgestatteten Wohn-
zimmer saß am Spätnachmittage der Sägemüller einsam beim
Vespermahle, wobei das Rauschen des Wasserrads und das
Kreischen der Säge die Tafelmusik bildeten. Je weniger
Bequemlichkeit die gelb getünchte Stube mit ihren wenigen
rohen Möbeln darbot, desto mehr schien ihr Bewohner für
kulinarische Genüsse eingenommen zu sein. Obwohl das
Vespern nur ein bescheidenes Mittelglied zwischen Mittag-
und Abendessen bildet, so wies der mit einem nicht sehr
sauberen Tuche bedeckte Tisch doch außer Brod, Butter und
Speck auch noch Eier, Schinken und kalten Braten auf, und
neben den beiden Flaschen Bier, von denen die eine bereits
geleert war, prangte eine etwas kleinere, aber desto vor-
nehmere Mitschwester, deren bunte Etikette den Namen eines
feinen Likörs verrieth. Das behäbige Embonpoint, das
fleischige Doppelkinn und das schwammige Gesicht, wodurch
sich das Wohlleben äußerlich am Menschen zu kennzeichnen
pflegt, suchte man jedoch bei dem Mühlenbesitzer vergeblich;
dazu war er noch zu jung und vielleicht auch erst zu kurze
Zeit im Genuß des behaglichen Wohlstandes, der eine so
üppige Halbabendmahlzeit gestattet. Seine mittelgroße
Figur zeigte ein Ebenmaß, welches angenehm ins Auge fiel;
sein etwas bleiches bartloses Gesicht konnte hübsch genannt
werden und hätte für ihn eingenommen, wäre nicht ein ge-
wisser Zug um den Mund gewesen, der auf Heimtücke
oder Verbissenheit oder auf sonst eine gefährliche Charakter-
eigenschaft schließen ließ, welche unter diesem glatten Gesicht
lauerte.
Während er eben sich's noch schmecken ließ, knarrten
Schritte auf der aus dem Hofe heraufführenden morschen
Holztreppe. Ein kurzes Pochen an .der Thür ertönte und
fast zugleich öffnete sich diese.
Auf der Schwelle erschien die Baronin. Es lag etwas
Gedeimnißvolles in der Art ihres Eintretens. Sie zog sorg-
fältig die Thür hinter sich wieder zu und sagte mit leiser
Stimme:
»Heute endlich habe ich ihn wieder zu Hause angetroffeu.
Hätte ich den Gang nur um einen Tag verschoben, so wäre
es zu spät gewesen."
Der Müller legte Messer und Gabel beiseite, eher mit
der Miene, als wäre ihm der Appetit vergangen, als aus
Respekt vor seinem vornehmen Besuche, denn er blieb ruhig
sitzen und überlieb es auch der Dame, sich selbst nach einer
Sitzgelegenheit umzusehen.
»Du hast ihn also getroffen," erwiderte er ebenso leise
und blickte sie gespannt an.
„Dabei habe ich mich von neuem überzeugt," flüsterte
sie, „daß man ihm in seiner Wohnung nicht beikommen
kann. Wie ich Dir schon mittheilte, herrscht ein zu leb-
hafter Verkehr in dem verwünschten Hause; der Revolver,
der auch heute an seinem alten Flecke lag, beweist, daß
er stets auf seiner Hut ist. Mein Pülverchen, das Cyankali,
bin ich auch diesmal nicht los geworden, — nicht ein arm-
seliges Glas Wasser stand da, in das ich es hätte schütten
können."
Der Müller seufzte schwer auf und blickte finster zu
Boden.
„Aber er geht in die Schlinge, Heinrich," fuhr die
Baronin flüsternd fort, „heute Nacht noch l" Er ist uns
sicher I"
„So, so!" sagte Heinrich erleichtert und hob den Kopf,
wobei der Blick seines dunklen Auges sich erwartungsvoll auf
ihre Lippen richtete.
(Fortsetzung folgt.)
Sonntags ausgenommen.
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ISO«.
Ein Brief aus der deutschen Gesandtschaft
in Peking.
Von dem zur deutschen Gesandtschaft in Peking
kommandirtcn Leutnant L. 1a suits des Dragonerregiments
Nr. 8 v. Loesch ist ein vom 28./29. Mai 1900
datirtes Schreiben an die Angehörigen dieses Offiziers in
Ober-Stephansdorf gelangt. Wir entnehmen diesem der
Schles. Ztg. zur Verfügung gestellten Briefe folgende Mit-
theilungen über die Lage in Peking gegen Ende Mai:
Den 28. Mai. „. . . Ganz harmlos schrieb ich gestern die
ersten Seiten dieses Briefes, dann kam Below (erster Sekretär)
und holte mich ab zu einem Besuch bei einem Schweizer, Jean
Renaud, der Teppiche machen läßt. Nach dem Lunch lag ich auf
dem Bett und schlief. Zu meiner Verwunderung hörte ich mehr-
mals in meinen Träumen vom Garten die Stimme unseres Ge-
sandten. Um 5 Uhr ging ich zum Tennis. Im Thorwege stand
ein deutscher Maschineningenieur der Bahn nach Pauttngsu. Ich
hörte, wie er sagte: «Es ist kein Zug angekommen".
Da merkte ich, daß die Boxer sich wieder rührten. Ich schrieb
Wohl schon von Tientsin aus über die Boxer, und daß sie ein
Dorf angegriffen hätten. Die Boxer sind eine geheime Gesell-
schaft, die ihre Spitze sowohl gegen die gegenwärtige Mandschu-
Dynastie wie gegen die Christen und die Fremden überhaupt
richtet. Unterstützt wird sie dadurch, daß im Lande zur
Zeit grobe Unzufriedenheit herrscht, vornehmlich
wegen der Mißernte, die das Ausbleiben des Regens
voriges Jahr bewirkte, dann auch wegen des Staats-
streiches, der Absetzung des Kaisers, letzteres vornehmlich im
Süden des Landes.
Als wir zum ersten Mal von Tientsin nach Peking fuhren,
wurde gerade ein Kavallerieregiment verladen, das gegen die
Boxer ziehen sollte. Die Boxer wurden auch zerstreut, und alles
war fünf Wochen ruhig. Doch wurden fortwährend aufreizende
Flugblätter vertheilt. Die Gesandten beschwerten sich beim
Tsungli-Iamen (der Behörde, mit der die fremden Mächte ver-
kehren, eine Art Mintsterrath), daß man Plakate an den Straßen-
ecken duldete, in denen zur Ermordung der Fremden aufgefordert
wurde. In anderen Plakaten wurden die Chinesen gewarnt,
Nicht mehr mit der Bahn zu fahren, da nächstens ein Unglück
geschehen würde. Die Regierung versprach, alle solche Plakate
entfernen zu lassen.
Es wird jetzt an der Bahn gebaut, die die Belgier von
Peking nachHankau am Jangtse bauen. Sie trifft die
Bahn Peking—Tientsin bei der ersten Station, etwa 20 Kilometer
von Peking, und ist bis Pautingfu, der Hauptstadt der
Provinz Tschili, in der Peking liegt, fertig. Zwischen
Pautingfu und Peking sitzen die Boxer haupt-
sächlich. Vor etwa vierzehn Tagen wurde ein Christendorf,
25 Kilometer südwestlich von Peking, von den Boxern überfallen
und über siebzig Christen ermordet, die meisten in der Kirche
verbrannt, ich glaube auch ein eingeborener Geistlicher. Dies
geschah, während wir zu den Rennen in Tientsin waren. Als
wir zurückkameu. fanden wir hier eine eigenthümliche Spaltung
vor. Die Franzosen und Russen thaten, jedenfalls aus
Politischen Gründen, furchtbar erschrocken — die Russen gingen
nur noch mit Gewehren über die Straße — während die
Engländer wieder thaten, als wäre nichts passirt. Jeden-
falls wurde eine energische Note an's Tsungli-
Namen gerichtet. Merkwürdig ist, daß gerade alte
Chinakenner sehr besorgt sind. Monseigneur
Favier, apostolischer Vikar und Bischof von Peking, hat erklärt,
daß in den 35 Jahren, wo er hier ist, die Lage
noch nie so ernst gewesen wäre, auch nicht vor dem Blut-
bade von Tientsin 1370. Er sagte zu dem belgischen Gesandten,
er wisse, erst wollten die Boxer die Christengemeinden außerhalb
der Stadt zerstören, dann den Petang (die katholische Nieder-
lassung in Peking) und zwei Tage darauf die Gesandtschaften.
»Nun wohl, sagte Monsieur Joostens, »dann werden wir ja
ganz genau wissen, wann wir zu fliehen haben". Der Vicelönig
von Tientsin schickte Truppen aus, sie fielen in einen Hinterhalt,
und es wurden siebzig und der Oberst getödtet. Es wurde
damals erwogen, ob man, wie schon einmal,
Truppen zum Schutz d e r Gesandtschaft landen
sollte. Ketteler war sehr dagegen, und die Fran-
zosen, die es gern gethan hätten (Monsieur Pichon, der
französische Gesandte, weinte in der Gesandtenkonferenz),
fügten sich. Dabei spielte mit, daß das diplomatische Korps
gern in die Sommerfrische und ins Seebad möchte, und daß wir
dann jedenfalls nicht weg könnten. Am Sonnabend gab es
wieder allerhand Gerüchte. Ein Herr v. Broele, ehemaliger
Offizier, jetzt Lehrer an der Universität hier, siedelte mit seiner
Familie aus seiner Wohnung in die Mandschustadt ins Hotel
über, das uns gerade gegenüber liegt, und schrieb die alarmirend-
sten Briefe an den Gesandten. Wir ließen uns dadurch so wenig
stören, daß wir Sonntag früh zu vier Mann mit dem zweiten
Dolmetscher, Dr. Merkltnghaus, in die Stadt fuhren. Wir
gingen dann stundenlang durch die engsten Straßen und das
dickste Menschengewühl, ohne einem unfreundlichen Blick zu be-
gegnen. Die Chinesen find eigentlich ein freundliches Volk, und
wenn man nur irgendwie mit ihnen sich beschäftigt, lachen sie.
Montag früh haben die Boxer einen Angriff auf
die belgische Bahn gemacht. Das europäische Per-
sonal floh nach Peking, ein Ingenieur ist schwer verwundet
worden. Dann besetzten sie den Knotenpunkt der Bahnen.
Das Personal floh auf einer Maschine nach Tientsin. Es
ist gestern kein Zug angekommen. Die Boxer sollen auch
eine Brücke zerstört haben. Diese Nachrichten wurden hier
Nachmittags bekannt. Als ich im Halbschlummer die Stimme
unseres Gesandten hörte, gab er eben Befehl» die sechs
Winchestergewchre, die wir zu unserem Schutze haben, heraus-
zuuehmen. Wir spielten Tenui» wie gewöhnlich mit der Mar-
chesa-Salvago, doch war der Platz sonst verlassen. Im Klub
war die Aufregung groß. Ich bin überzeugt, dag zwei Drittel
der Europäer geflohen wären, wenn nicht die Bahn in den
Händen aer Aufständischen gewesen wäre. Gegen Abend war
Gesandtenkonferenz. Es wurde beschlossen,
daß die acht Staaten, die Kriegsschiffe hier
haben, Detachements von mindestens fünfzig
Mann zum Schutze kommen lassen sollen. Um
acht Uhr fing es an zu regnen und die Luft war herrlich kühl.
Als ich zum Essen ging, saß Bergen (der zweite Gesandtschafts-
sekretär) noch im Tennisanzuge und chiffrirte eine Depesche nach
Tsintau. Auch nach Berlin an den Geschwaderchef u. s. w.
gingen endlose Depeschen ab.
Nach Tisch gingen wir zum Gesandten. Er erzählte uns, daß
eben die Nachricht von der Ermordung Junglüs ge-
kommen sei. Junglü war ein Neffe der Kaiserin-Regentin, zur
Zeit des Staatsstreichs Vizekönig von Tientsin und seither Ge-
neralissimus der Armee und sehr fremdenfeind-
lich. Der Hof residirt zur Zeit nicht in Peking, sondern auf
den Sommerpalästen im Norden der Stadt. Wir gingen
noch in's Hotel, um ein Glas Bier zu trinken. Auch hier war
alles zur Verlheidigung eingerichtet. Vor jeder Gesandtschaft
war eine Abthetlung Kavallerie mit langen Lanzen abgesesfeu.
Die Aufregung in Tientsin mag schön sei», wo man ohne Nach-
richten von hier ist. Hoffentlich tclcgraphirt man keine zu wilden
Sachen nach Europa. Die Nacht verlief ruhig und war pracht-
voll kühl. Bis jetzt hat man keine neuen Nachrichten. Ich wollte
heute früh nach Machiaffu (dem Bahnhof von Peking) heraus-
reiten, der Gesandte verbot es mir aller."
Den 29. Mai: „Der gestrige Tag verlief ruhig. Der Ge-
sandte sagte mir, ich müsse, wenn morgen wieder keine Post ginge,
mit seinen Briefen nach Tientsin retten, begleitet von einigen
Reitknechten. Stach Tientsin ist zwei Tage zu reiten. Der Auf-
trag war nicht ganz ungefährlich, aber sehr interessant. Nach-
mittags kam aber ein Zug an. Heute geht die Post ab. Bergen
soll den Depeschenkasten bis Tientsin bringen und dort warten,
bis das Marinedetachement ankommt. Es liegen schon mehrere
Kriegsschiffe vor Taku. Gestern Abend war vor dem Hotel ein
merkwürdiges Schauspiel; mehrere von den Ingenieuren der
belgischen Bahn, die am 27. früh direkt von der Arbeit weg nach
Peking geflohen waren, waren, begleitet von einigen hiesigen
Herren, ausgczogen, um ihre Frauen und Kinder abzuholen, die
zurückgeblieben waren. Diese hatten sich in ihren Häusern ver-
schanzt und hatten den Tag und die Nacht ungefährdet, aber in
Angst verbracht. Jetzt wurden sie in Karren in's Hotel gebracht,
daneben schritten die Männer, staubbedeckt, Flinten umgehängt,
es sah aus wie ein Zug von Auswanderern im fernen Westen.
Die Menge drängte gewaltig nach; da ergriff der Hotelbesitzer
seine Feuerspritze und richtete den Strahl auf die Menge; im
Nu war sie verschwunden.
Bet uns wird eifrig daran gearbeitet, die leeren Zimmer im
Burcauhausc für das Martnedetachement in Stand zu setzen.
Sonnabend wird es wohl eintreffen. Es scheint, daß die Nach-
richt von der Ermordung Junglüs nicht wahr ist. Die Regierung
bittet händeringend, doch j, keine Truppen zu landen, es wird
ihr aber nichts nützen . . ."
Die Vorgänge in China.
Die Lage der europäischen Truppen in Tient-
sin wird immer bedenklicher. Es liegen darüber folgende
Telegramme vor:
Tientsin, 12. Juli. Wie das Bureau Reuter
meldet, besteht zwischen den Befehlshabern der ver-
einigten Truppen allgemein der Wunsch, mit
einander zu cooperiren. Ein wirksames Vorgehen der
Vereinigten sei aber durch den Mangel an Zusammen-
schluß beeinträchtigt. Der Vortheil der Lage bei
den Operationen der letzten Woche sei im Ganzen auf
Seiten der Chinesen gewesen, deren Artillerie
derjenigen der europäischen Truppen an Güte über-
legen sei.
Tientsin, 12. Juli. Der chinesische General Ma
hat nach dem Daily Expreß nach sechsstündigem
Kampfe das Zeughaus östlich von Tientsin am
6. Juli wieder genommen und den Vertheidigern
schwere Verluste beigebracht. Der japanische
Kommandant verlangte eiligst Verstärkungen.
Tschifu, 12. Juli. Das Artilleriegefecht in
Tientsin dauert noch an. Die chinesischen Ge«
schütze sind so gut maskirt, d«ß die Vereinigten große
Schwierigkeiten haben, deren Standorte festzustellen.
Wie man aus dem Obenstehenden ersieht, ist die
Situation, die schon seit einigen Tagen als sehr bedenklich
bezeichnet wurde, inzwischen noch bedenklicher geworden.
Die Vertheidigung von Tientsin wird als außerordentlich
schwierig bezeichnet, da die Stadt sehr ausgedehnt ist und
die für die Vertheidigung in Betracht kommenden Terrain-
abschnitte unübersichtlich sind und ungeschickt liegen. Viel-
leicht kommen die japanischen Verstärkungen, die schon in
Taku avisirt sind, rechtzeitig an, um den Europäern die
Behauptung Tientsins zu ermöglichen.
Die Lage der Dinge in Peking wird gegenwärtig in
London wieder sehr pessimistisch angesehen. Man hebt für
letztere Anschauung hervor, daß trotz der hohen Summen,
die für europäische Nachrichten aus Peking geboten woroen
seien, seit Harts Depesche, seit 18 Tagen keine europäische
Silbe von dort verlautet, daß am 24. Juni nur mehr für
3 Tage Lebensmittel Vorlagen und daß deren Haup.nieder-
lage verbrannt war. Man legt auch dar, daß alle neueren
chinesischen Depeschen nur durch das Gaukelspiel der Be-
amten mit dem Kalendcruntcrschied einen günstigen Schein
erhalten, denn der 5. Juli chinesischen ist der 1. Juli
unseres Stils. Dazu kommt der weitere Abzug von
mindestens vier Tagen für die Reise des Besten. Das
neuerliche kaiserliche Edict an die Gesandtschaften rührt nach
einer Meldung des Daily Expreß aus Shanghai nicht vom
Kaiser Kwangsue, sondern von dem Usurpator Tuan her
und trägt die Ausfertigung vom 29. Juni, ist also vor
dem Tage des Gemetzels abgefaßt, das sich in der Nacht
vom 30. Juni auf den 1. Juli zugetragen haben soll.
Nach einer Meldung der Daily Mail sind auch die ge-
wöhnlich ausgezeichnet unterrichteten Jesuiten in Shanghai
bestimmt der Ansicht, daß die Pekinger Europäer sämmllich
todt seien. Auch die abermalige kategorische Entbictung Li-
Hung-Tschangs nach Peking geschah, wie man glaubt, um
die Pekinger Machthaber wegen der Gesandtenmorde aus
der Klemme zu ziehen. Das angebliche Rundschreibe., der
Kaiserin vom 30. Juni an die Mächte wird in Shaugyai
nicht für echt gehalten.
Auch iu der Gegend von Niutschwang in der
Mongolei gegen Korea hin, in welcher der russische Ein-
fluß sich geltend zu machen bestrebt, wird es mehr und
mehr unruhig. Laut Mittheilungen des Reuter'schen Bu-
reaus aus Niutschwang vom 9. ds. sind Frauen und
Kinder angekommen. Wie berichtet wird, treffen täglich
Boxer in Niutschwang ein und halten in der Staat
militärische Hebungen ab. Die russische Niederlassung, die
drei Meilen oberhalb der Stadt gelegen ist, rüstet sich zum
Widerstande für den Fall eines Angriffes.
Die Irre von Sankt Rochus.
Kriminalroman von Gustav Höcker.
27) (Fortsetzung.)
Allram besaß vollauf, was er brauchte, und für seine alten
Tage war gesorgt; aber es war ihm Bedürfniß. immer auf
irgend einer Fährte zu sein; ohne diese Aufregungen erschien
wm das Leben leer, und hierin ähnelte er dem schaffenden
Künstler, der sich stets mit Ideen trägt und ohne diesen
Nervenreiz nicht leben kann.
Die Gläubiger des verschwundenen Bankrotteurs Sexauer
hatten den Detektiv wiederholt angegangen, die Verfolgung
?es Flüchtlings aufzunehmen, zumal sich das Gerücht, er sei
W Kairo, hartnäckig ausrecht erhielt, und Allram dafür be-
rühmt war. schon manchen Verbrecher aus einem sicheren
Asyle herausgelockt zu haben. So beschloß er denn, jener
?" ihn ergangenen Aufforderung nachzukommen, nachdem
seine Thätigkeit für die Irre von St. Rochus einen so un-
erwarteten Abschluß gefunden hatte, und traf seine Vorbe-
reitungen zur Reise nach der Hauptstadt Aegyptens, wie der
vollgepackte Reisekorb bewies. . . .
- Als ihn die Baronin verlassen hatte, erschien Frau
Schubert wieder mit Ausklopfer und Teppichen.
.. »Nun will ich die Droschke bestellen." bemerkte sie, als
?w Teppiche ihre Plätze wieder erhalten hatten; „auf morgen
lrüh vier Uhr, sagten Sie, nicht wahr?"
... Der Detektiv räusperte sich verlegen,
mnfig noch sein, Frau Schubert. Es
v>cht reise."
- „Was sagte ich?" frohlockte die Alte. »Sagte ich nicht,
«>e bätten's beniest? Nun lachen Sie mich nur nicht mehr
ous, Herr Allram, weil ich an Vorzeichen glaube. DaS Be-
lassen Sie's vor-
ist möglich, daß ich
niesen ist ein Prophet, der niemals trügt, — mit oder ohne
Seife in der Nasel"
In seinem mit ländlicher Einfachheit ausgestatteten Wohn-
zimmer saß am Spätnachmittage der Sägemüller einsam beim
Vespermahle, wobei das Rauschen des Wasserrads und das
Kreischen der Säge die Tafelmusik bildeten. Je weniger
Bequemlichkeit die gelb getünchte Stube mit ihren wenigen
rohen Möbeln darbot, desto mehr schien ihr Bewohner für
kulinarische Genüsse eingenommen zu sein. Obwohl das
Vespern nur ein bescheidenes Mittelglied zwischen Mittag-
und Abendessen bildet, so wies der mit einem nicht sehr
sauberen Tuche bedeckte Tisch doch außer Brod, Butter und
Speck auch noch Eier, Schinken und kalten Braten auf, und
neben den beiden Flaschen Bier, von denen die eine bereits
geleert war, prangte eine etwas kleinere, aber desto vor-
nehmere Mitschwester, deren bunte Etikette den Namen eines
feinen Likörs verrieth. Das behäbige Embonpoint, das
fleischige Doppelkinn und das schwammige Gesicht, wodurch
sich das Wohlleben äußerlich am Menschen zu kennzeichnen
pflegt, suchte man jedoch bei dem Mühlenbesitzer vergeblich;
dazu war er noch zu jung und vielleicht auch erst zu kurze
Zeit im Genuß des behaglichen Wohlstandes, der eine so
üppige Halbabendmahlzeit gestattet. Seine mittelgroße
Figur zeigte ein Ebenmaß, welches angenehm ins Auge fiel;
sein etwas bleiches bartloses Gesicht konnte hübsch genannt
werden und hätte für ihn eingenommen, wäre nicht ein ge-
wisser Zug um den Mund gewesen, der auf Heimtücke
oder Verbissenheit oder auf sonst eine gefährliche Charakter-
eigenschaft schließen ließ, welche unter diesem glatten Gesicht
lauerte.
Während er eben sich's noch schmecken ließ, knarrten
Schritte auf der aus dem Hofe heraufführenden morschen
Holztreppe. Ein kurzes Pochen an .der Thür ertönte und
fast zugleich öffnete sich diese.
Auf der Schwelle erschien die Baronin. Es lag etwas
Gedeimnißvolles in der Art ihres Eintretens. Sie zog sorg-
fältig die Thür hinter sich wieder zu und sagte mit leiser
Stimme:
»Heute endlich habe ich ihn wieder zu Hause angetroffeu.
Hätte ich den Gang nur um einen Tag verschoben, so wäre
es zu spät gewesen."
Der Müller legte Messer und Gabel beiseite, eher mit
der Miene, als wäre ihm der Appetit vergangen, als aus
Respekt vor seinem vornehmen Besuche, denn er blieb ruhig
sitzen und überlieb es auch der Dame, sich selbst nach einer
Sitzgelegenheit umzusehen.
»Du hast ihn also getroffen," erwiderte er ebenso leise
und blickte sie gespannt an.
„Dabei habe ich mich von neuem überzeugt," flüsterte
sie, „daß man ihm in seiner Wohnung nicht beikommen
kann. Wie ich Dir schon mittheilte, herrscht ein zu leb-
hafter Verkehr in dem verwünschten Hause; der Revolver,
der auch heute an seinem alten Flecke lag, beweist, daß
er stets auf seiner Hut ist. Mein Pülverchen, das Cyankali,
bin ich auch diesmal nicht los geworden, — nicht ein arm-
seliges Glas Wasser stand da, in das ich es hätte schütten
können."
Der Müller seufzte schwer auf und blickte finster zu
Boden.
„Aber er geht in die Schlinge, Heinrich," fuhr die
Baronin flüsternd fort, „heute Nacht noch l" Er ist uns
sicher I"
„So, so!" sagte Heinrich erleichtert und hob den Kopf,
wobei der Blick seines dunklen Auges sich erwartungsvoll auf
ihre Lippen richtete.
(Fortsetzung folgt.)