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Heidelberger Zeitung — 1900 (Juli bis Dezember)

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Nr. 281-304 (01. Dezember 1900 - 31. Dezember 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.37614#0625

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Xr. 285. Erlies tilalt. Nonnerslag, de« k. December

18VV.

Ministerialpräfident Schenkel
Wahlreform.

über die

In der Bad. Presse finden wir eine ausführliche Wie-
dergabe der Rede, die Ministerialpräfident Schenkel auf
dem Bankett des HandelstagcS in Karlsruhe gehalten hat.
Sie knüpfte an an einen Toast, den Kommerzienrath
Schneider auf die Regierung ausgebracht und worin er
gesagt hatte, der Handelsstand, möge er einer Parteirichtung
»ngehören, der er wolle, werde es immer begrüßen, wenn
die Regierung in allen Fragen über den Parteien
ft ehe, wenn sie nicht von der Laune des Tages abhängig
fei und allein staatsmännische Ideen und nicht die zufäl-
ligen politischen Parteimeinungen für sie maß-
gebend seien. Denn die politischen Meinungen schwankten
hin und her bei der Gunst und den jeweiligen Wünschen
der politischen Parteien und der Masse ihrer Anhänger.
Ministerialpräfident Schenkel:
Der vereinte Präsident der Karlsruher Handelskammer, Herr
^eh. Kommerzienrath Schneider, hat in so freundlichen Worten
der Großh. Regierung gedacht, daß ich mich verpflichtet fühle,
darauf zu antworten. Seine Anerkennung war zunächst der bis»
herigen Thättgkeit der Regierung zugedacht und ich kann da um
unbefangener danken, als sie mich nicht trifft, da ich erst vor
A Monaten in mein jetziges Amt berufen wurde und noch nichts
wesentliches habe leisten können. Aber Ihre Anerkennung gilt
.keinen Herren College» im Staatsministerium, in deren Namen
>ch hiermit gleichfalls danke und sie gilt namentlich auch meinem
verehrten Vorgänger, Herrn Minister Eisenlohr, der nach
langer, verdienstvoller Thättgkeit vor wenig Monaten aus seiner
Stellung auSschied. Mit Bedauern ist von allen Seiten dies
lein Ausscheiden ausgenommen worden. Minister Eisenlohr ist
geschieden aus seinem Amte in ungebrochener Kraft des Leibes
Und der Seele, allein aus persönlichen Rücksichten. Er
wollte die ihm noch bleibenden Jahre — und wir hoffen, daß es
Aren noch recht viele sind — nach vielen aufreibenden politischen
Kämpfen und nachdem er sein ganzes arbeitsames Leben im Ver-
waltungsdienst verbracht, endlich einmal dem Familienleben
Und dem Genuß der Natur widmen. Das genügt sicherlich,
UM sein Ausscheiden aus seinem Amte zu erklären und es ist
darum nicht nöthtg, noch nach andern Gründen zu suchen.
Als ich als Nachfolger Dr. Eisenlohrs, durch das Vertrauen
S. K. H. des Grobherzogs berufen, in meine jetzige Stellung
"»trat, war ich mir schwerer Pflicht bewußt. Aber ich hatte
^gleich das Bewußtsein, daß ich gewiesene Wege zu
schreiten hatte: die Bahn des gesunden, gemäßigten
Fortschritts, die sich unter der säst fünfzigjährigen Herrschaft
"»es weisen Fürsten als die allein mögliche erzeigt hatte. Diese
^ahn werde ich meinerseits mit meinen bescheidenen Kräften
ullezeit weiter wandeln. Ich bin dazu neuerdings ermulhigt
furch die Worte meines Vorredners. Er hat nach einer Rück-
schau auf die Vergangenheit einen Blick in die Zukunft geworfen,
Uuf die Pflichten eines Staatsbürgers gegenüber den Parteien
Und der Regierung. Er hat mit Recht bemerkt, daß der Sinn
sUr die politischen Fragen unserer Tage gegenüber der
Zeit eines Lamey und Stabel sehr erheblich abgenommen
M. Und das ist begreiflich. Die großen idealen Wünsche des
damaligen Geschlechts, das für die Verfolgung seiner Ziele viel
gleistet hat, sie sind zumeist heute verwirklicht. Wir haben
ftn einiges deutsches Vaterland, haben ein großes deutsches Reich,
Md mit unserem Hcimathlande Baden selbst ein kräftiges Glied
Ad großen Ganzen und sehen, wie dieses deutsche Reich auch im
Auslände sich zu behaupten weiß und seine Flotte eintreten läßt
wr den Schutz und die Weiterentwickelung von Handel und
Industrie. Im Innern unseres Heimathlandes aber erfreuen
Ast uns einer gesunden Selbstverwaltung, die jedem
Mrger ermöglicht, sich an der Arbeit für das Gemeinwohl zu
""heiligen. Es ist dabei eine große Entwickelung von Handel
Aud Industrie hervorgetreten und ich freue mich, das gerade in
?wsem Kreise betonen zu können. Wer hätte vor 20 und 30
fahren das geglaubt, daß wir heute eine so erfolgreiche und
hervorragende Vertretung des Handels st andes hier ver-
VMrnelt sehen könnten! Richtig ist. daß in anderen Kreisen diese
Fortentwickelung sich nicht so zeigte, ober auch daß Klein-
sten: erbe und die Landwirth schüft, wenn sie den Vortheil
Ar Selbsthilfe und Zusammenarbeit in gleicher Weise erkennen
Und, während sie sich unter einander die Hand reichen, auch die
.Men gestreckte Hand der Regierung erfassen, werden in die Lage
^Mmen, ihre Lebenshaltung sich bessern zu sehen.
Aus dieser heutigen Erfüllung früherer idealer Forderungen
ANo Wünsche also kommt es, daß jetzt das Interesse an den poli-
tischen Lagesfragen zurückgegangen ist. Um so merkwürdiger
." es da nun, daß heute eine politische Frage die Oeffcntlich-
Est aufregt, daß ein gewisser Sturm, wenn nicht durch die Ge-
AUther, so doch durch die Zeitungsblätter geht rdieForderung
"s direkten Wahlrechts. Die Wahlrechtsfrage selbst ist
M nicht neu, sie ist eigentlich schon hervorgetreten seit 30 Jahren.
Mmals wurde ein bedeutungsvoller Schritt in unserm Äer-
wssungsleben gethan. Bis 1869/70 besaß das Wahlrecht nur
iW kleiner Theil der Bevölkerung, derjenige allein, der das
Bürgerrecht in der Gemeinde hatte. — und das war nur einem
schränkten Kreis zugänglich. Zum Zweiten aber waren die
Mhlen damals öffentlich, was auf die Abgabe der Stimmen
^erlich auch nicht ohne Einfluß blieb. Damals also wurde die
hkgestaltung des Wahlrechts in einer Tragweite vorgenommcn,
«A wir sie heute überhaupt gar nicht mehr vornehmen können.
° wurden mit einem Male alle Badener vom 25. Jahre
sA ohne jede Beschränkung wahlberechtigt und das Wahlverfahren
gstvst wurde zu einem geheimen. Dagegen ist geblieben das seit
Asginn unserer Verfassung bestehende indirekte Wahlver»
Miren. Das aber hatte seinen guten Grund. Das indirekte
Mhlversahren hat herbeiführen wollen, daß nicht jeder Be-
AjKge in gleicher Weise Theil nimmt an der Bestimmung eines
y "geordneten, sondern daß hierfür ein besonderer kleiner Kreis
Vertrauensmännern gewählt wird, bei denen angesichts ihrer

oercn Bildung und ihres Besitzes auch eine größere politische
»Jvstcht und ein größeres Interesse am Gemeinwohl voraus-
^>etzt wurde, um so eine gewisse Gewähr für die Zusammen-
ov"g der Abgeordnetenkammer zu haben,
x. Wichtig ist vielleicht, daß diese Voraussetzungen sich
der geändert haben und daß der Grundgedanke, der bei
w, Anordnung des indirekten Verfahrens maßgebend war, nicht
Zwei in gleicher Weise wie früher wirkt. Nun ist seit
ly" Monaten — es hat sich gerade gekreuzt mit dem Minister-
ium i — auch in der liberalen Partei die Bewegung laut
yhA Ausdruck gekommen, man solle auch diese letzte Einschränkung
dxj?offen. Infolge eines gewissen logischen Zusammenhangs
yn "stet Üch diese Bewegung jetzt überall; auch der Nach-
^»ngstricb ist als ein wichtiges Moment hierbei nicht außer

Acht zu lassen: Keiner will hinter dem Andern an freisinniger
Auffassung zurückstehen, auch ist man der langen Diskussionen
über das indirekte Verfahren hie und da müde, kurz, man ver-
langt: Auch wir wollen das direkte Wahlrecht!
Wie schon mein Vorredner angedeutet: Das sind Stim-
mungen des Tages. Die Regierung aber kann von einer
solchen Tagesmeinung nicht abhängig sein; sie blickt nicht nur
auf die Vergangenheit zurück, sondern auch in die Zukunft, sucht
die Wirkungen auf Jahrzehnte voraus zu berechnen und sieht sich
zugleich danach um, welche Erfahrungen man etwa anderwärts
mit dem unbeschränkten allgemeinen, gleichen, geheimen und direk-
ten Wahlrecht gemacht hat Wo in Deutschland haben wir denn
ein solches radikales Massen Wahlrecht ? Nirgends! Wir wären
der erste Bundesstaat, der darin ein Beispiel gäbe. Preußen und
Sachsen haben das 3 Klaffen-Wahlsystem, Bayern und Hessen
ein verschärftes indirektes Verfahren und Württemberg hat wohl
das direkte Verfahren, aber dabei einen nicht unbeträchtlichen
Theil der Kammer aus privilegirten Mitgliedern zusammen-
gesetzt. Nun sagt man: wir haben ja das allgemeine, gleiche,
geheime und direkte Wahlrecht im deutschen Reich bei der
Wahl zum Reichstag. Das scheint mir aber für uns in keiner
Weise vorbildlich. Die Dinge gestalten sich vor allem ganz anders
nach dem Raum, nach deu ganzen gegebenen Verhältnissen. Im
Reich haben wir eine Bevölkerung von 52 Millionen unter den
verschiedenartigsten Kulturverhältnissen. Da ist es selbstverständ-
lich. daß eine solche Allgemeinbestimmung anders wirkt als in
Baden, wo die 2 Millionen Einwohner einander näher gerückt
sind und auch die ganzen Kultur- und Lcbensverhältnisse unter
einander ähnlicher sind. Aber im Deutschen Reich ist zudem das
direkte Wahlverfahren mit einer andern Bestimmung verkoppelt:
der Beschränkung der Wahlfähigkeit. Gewählt werden kann nur,
wer bet der hierfür angeordneten D iät enlo sig k eit ein Man-
dat ausüben kann. Nun möchte ich sehen, mit welchem mit Ent-
rüstung gemischten Staunen eS ausgenommen werden würde,
wollte die Großh. Regierung, was sie übrigens nie thun wird,
in Baden gleichfalls mit dem Vorschlag der Diätenlosigkeit der
Abgeordneten hervortreten. Und blicken Sie nun über die deutschen
Grenzpfähle hinaus. Es ist das unbeschränkte direkte Wahlverfahren
nicht etwa eingeführt in den älteren Staaten, wie in England, dem
Sitz des Parlamentarismus, sondern vielmehr nur in jungen
Staatengebilden. Sind diese denn nun wirklich in ihrem Par-
lamentarismus so, daß sie uns als Muster dienen können, oder hat
irgendwo der betr. Staat unter dem direkten Wahlrecht einen so
besonderen Aufschwung genommen?
Die Großh. Regierung ist keincswegsabge neigt,
in eine Wahlrcform einzutreten und das indirekte Wahl-
ver fa h r en d u rch d a s d ire kt e zu ersetzen. Aber nur
daun, wenn Gewähr dafür gegeben wird, daß der Grund-
gedanke, der zur Einrichtung des indirekten Verfahrens veran-
laßte, auch später bei dem direkten Wahlrecht in der Volks-
vertretung seinen Ausdruck findet. Gegen die Gefahren
des direkten Wahlrechts, die nicht eintreten müssen, wohl aber
eintreten können — und die Regierung ist verpflichtet, mit der
Möglichkeit zu rechnen — bedarf es einer solchen Gewähr, daß
nicht nur die bloßen parteipolitischen Forderungen der Massen,
sondern die Erfahrungen und Anschauungen der Einsichtigen zum
Wähle des Landes zur Geltung kommen.
Drei Punkte sind noch hierbei zu bedenken. Vor allem
liegt im allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht
die Gefahr, daß zunächst es die zufälligen örtlichen
Interessen des jeweiligen Wahlbezirkes sind, welche bei der
Wahl zum Ausdrucke gelangen, und nicht mehr die großen All-
gemetntnteressen. Wir werden dann als Folge sehen, daß die
einzelnen Volksvertreter gleich belastet mit solchen speziellen ört-
lichen Forderungen und Versprechungen erscheinen, wo sie doch
das allgemeine Staatswohl im Auge haben sollten. Zum zweiten
wird sich ergeben, daß bet dem direkten Wahlrecht bei einer
leidenschaftlichen Agitation nur noch, wie schon angedeutet, das
Interesse der großen Masse zum Ausdruck gelangt, nicht abrr
daneben das Interesse der mittleren Stände, die durch
ihren Besitz und ihre Bildung vor den Massen hervorragen und
gerade die Führung im Volke abgeben müssen. Drittens wird
das direkte Wahlrecht eine Anzahl werthvoller Elemente unter
unseren einsichtsvollen und politisch geschulten Mitbürgern ab-
schreck e n , persönlich wieder in einen Wahlkampf hinab-
zusteigen, der mit aller Leidenschaftlichkeit und Rücksichtslosigkeit
gcsühit werden wird, und wir müßten in Folge dessen manche in
den Bedürfnissen des Staatslebens wohlerfahrene Persönlichkeiten
im Parlament entbehren. (Schluß folgt.)

Vom Reichstage.
Die Wahlprüfungskommission des Reichstags
hat dem Reichstag die Wahl des Abgeordneten Firzlaff-
Köslin als für giltig zu erklären vorgeschlagen.
Ferner ist dem Reichstag die vom Bundesrath be-
schlossene Bestimmung für den Kleinhandel mit Garn vor-
gelegt worden. Der Hauptinhalt derselben ist schon be-
kannt gegeben worden.
Die Regierung legte dem Reichstage den Entwurf eines
Gesetzes, betr. die Ausübung der freiwilligen
Gerichtsbarkeit und die Leistung von Rechts-
hilfe im Heere, vor.
Albrecht und Genossen, die neulich schon den Reichstag
mit einem dicken Bündel von Anträgen versorgten, ersuchen
jetzt die Regierung um einen Gesetzentwurf, durch welchen
die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der
Arbeiterinnen erhöht werden. Sie sollen über-
haupt nicht beschäftigt werden bei solchen Arbeiten, die
dem Organismus des Weibes besonders schädlich sind.
Gewerbliche Arbeit soll ferner während der ersten 6 Wochen
nach der Niederkunft einer Arbeiterin verboten sein. Wäh-
rend dieser ganzen Zeit sollen diese Arbeiterinnen eine
Unterstützung im Mindestbetrage des ortsüblichen Tage-
lohnes aus einer Krankenkasse, der sie zu diesem Zwecke
angehören müssen, erhalten. Die Beschäftigung der gewerv-
lichen Arbeiterinnen über 16 Jahre darf die Dauer von
10 Stunden täglich, an den Tagen vor Sonn- und
Feiertagen von 5 Stunden nicht überschreiten. Ueb er-
stunden dürfen nicht gemacht werden.

Deutsches Reich.
— Wie die Kölnische Volks-Zeitung miltheilt, find im
Laufe des Dienstag beim Präsidenten Krüger zahl-

reiche schriftliche und telegraphische Begrüßungen ein-
gelaufen. Namens der deutschen Centrale für Beendigung
des Burenkriegs (Sitz München) sandten im Anschluß an
den bereits früher dem Präsidenten übermittelten Ausdruck
der Gefühle von weit über eine Million Deutscher die
Herren Max von Pettenkofer, Prof. Grüber, Prof. Günther,
Prof. v. Defregger, Prof. Lipps, sowie Margaretha
Selenka folgendes Telegramm:
In dem Augenblicke, in welchem Ew. Exzellenz den Boden
des stammverwandten deutschen Landes betreten, bringen wir aus
tiefstem Herzen unsere heißen Wünsche für einen glücklichen Erfolg
Ihrer Reise dar. Möchte es Ihnen, dem erlauchten Führer
seines Volkes in dem heiligen Kampfe für Haus und Hof, für
Weib und Kind, für Freiheit und Vaterland, beschicken sein, für
Ihr Volk bald einen dauernden, die völlige Unabhängigkeit Ihres
Landes sichernden Frieden zu erreichen. Möchte dieser ruchlose
alles Gefühl für Recht und Menschlichkeit aufs tiefste verletzende
Krieg ein schleuniges Ende finden zum Heile Ihres namenlos
leidenden Volkes, zur Freude und Genugthuuug der ganzen mit-
leidenden gesitteten Welt.
— Die Wiener Neue Freie Presse schreibt:
Offener und aufrichtiger als das osficielle Frank-
reich ist das osficielle Deutschland, das nicht durch
Winkelzüge und Ausflüchte die Nothweudig leiten politischen
Interesses in den falschen Schein einer doch nur platonischen
Hilfswilligkeit kleidet. Vom Mmister Dclcass« empfing
Krüger den Bescheid, daß Frankreich bereit sei, zugunsten
Transvaals zu interveniren — wenn von anderer
Seite der Anfang gemacht würde! Daß Deutschland
sich dazu hergegeben hätte, diese „andere Seite" zu sein, wäre
freilich den Franzosen sehr willkommen gewesen, denn in
Paris könnte man nichts Besseres wünschen, als daß zwischen
Deutschland und England eine Kluft aufgerissen würde.
Aber grade das liegt nicht im Interesse Deutschlands, und
man hat in Berlin nicht gezögert, dieser Nöihigung Rech-
nung zu tragen, indem man dem Besuch Krügers in
schonender Form vorbeugte.
— Zum Befinden des Korvettenkapitäns La ns wird
der Voss. Ztg. aus Hamburg geschrieben: Dieser Tage
traf eine am 28. Oktober d. I. aus Jokohama abgesandte
Postkarte des tapferen Kommandanten des Iltis hier ein,
auf der dieser über sein Befinden Folgendes berichtet: „Mir
scheint es jetzt endlich nach einer Operation, die 4 Stunden
dauerte, besser zu gehen. Hoffentlich heilen die Knochen
jetzt zusammen. Das Bein wird aber 5 Centimcter
kürzer."
Deutscher Reichstag. Berlin, 5. Dec. Der erste
Punkt der Tagesordnung ist der Gesetzentwurf des
Ce nt rums, betreffend das schrankenlose Walten der
anerkannten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaf-
ten, für den der Name Toleranzantrag von oer Centrums-
prcsse erfunden worden ist.
Reichskanzler Graf Bülow gibt folgende Erklärung ab:
Obwohl die verbündeten Regierungen sich über gesetzgeberische
Anträge, die aus dem Reichstage hervorgehen, erst schlüssig zu
machen pflegen, nachdem der Reichstag seinerseits Stellung dazu
genommen hat, halten wir es im vorliegenden Falle doch für
nöthig, zu einer so ernste» und das Gewissen des deutschen
Volkes berührenden Frage baldigst uns auszusprechen. Die
Regierungen achten die Ueberzeugungen und Gefühle, die dem
Anträge zu Grunde liegen, sehen sich jedoch außer Stande,
diesem Anträge zuzustimmen, der die verfassungsmäßige Selb-
ständigkeit der Bundesstaaten auf einem Gebiet beschrän-
ken will, das sie der Zuständigkeit ihrer Landesgesetzgebung Vor-
behalten wissen. Der Reichskanzler gibt nun eine Erklärung
seiner persönlichen Stellung zu der Sache in folgendem Sinne:
Die aus älterer Zeit überkommene Gesetzgebung dieses oder
jenes Bundesstaates mag Vorschriften enthalten, die mit den in
dem größten Theile des Reiches anerkannten Grundsätzen freier
Religionsübung nicht überall in Einklang stehen. Wenn ich für
meine Person hoffe, daß derartige landesgesetzliche
Di spar träten verschwinden (Bravo l) — ich bin durch-
aus für die Gleichberechtigung der Religionsgesellschaften —, so
muß ich alsReichskanzler mir doch vor allem vor Augen halten,
daß meine erste Aufgabe dahin geht, denbundesstaatlichen
Charakter des Reiches und die Autorität der Bun-
des glieder, soweit die Neichsgesetzgebung sie gewährleistet,
nicht ohne völlige Zustimmung der einzelnen
Staaten beeinträchtigen zu lassen. (Hört, hört! links,
Bravo! rechts.) Hierin wurzelt das Vertrauen, auf das die
ReiLSgewalt bei den Bundesstaaten zählen muß. Dies Ver-
trauen unvermindert und ungeschmälert zu erhalten, ist meine
vornehmste Pflicht. (Bravo l rechts.) Ich bin überzeugt, daß das
hohe Haus mir in dieser Beziehung betstimmen wird.
Abg. Dr. Lieber (Centr.): Esset zu begrüßen, daß, wäh-
rend sonst bei Anträgen aus dem Hause der Bundesrath nicht
vertreten sei, er heute nicht einmal die Begründung des Antrags
abgewartet habe. Auch der Reichskanzler könne die Religions-
beschwerden in einzelnen Staaten nicht bezweffeln. Der Antrag
möge einer Kommission von 28 Mitgliedern überwiesen werden,
wo er ohne persönliche und konfessionelle Schärfe erörtert werden
solle. Er wolle nur die überkommene Gesetzgebung verantwortlich
machen, namentlich in Mecklenburg, Braunschweig und im König-
reich Sachsen, wo manches verboten ist, was retchsgesetzlich in
den Schutzgebieten erlaubt ist. Wie die Bestimmungen über das
Vereiuswesen, gehöre auch diese Sache zur Zuständigkeit der
Reichsgesetzgebimg.
Abg. Graf Stolberg-Wernigerode (consJ: Die Konse-
quenz des Antrags ließe sich nicht übersehen. Staatsrechtliche
Bedenken seien jedenfalls vorhanden. Der Antrag schmälere die
Rechte der Einzelstaaten. Immerhin könnte zweifelhaft sein, wie
weit diesen Bedenken stattzugeben sei. Deßhalb sei seine Partei
der Commisstonsberathung nicht entgegen.
Abg. v. Vollmar (Soc.): Der Antrag sei ein Schritt zum
Einheitsstaat. Das Centrum sei nicht immer dieser Ansicht
gewesen. Auch müsse das Centrum eigentlich Toleranz für unsitt-
lich halten. Es habe ja politische Toleranz gefordert. Es fordere
Toleranz, wo es in der Minderheit sei; gebe sie aber nicht, wo
es in der Mehrheit ist. Jedenfalls sei das Centrum ein zweifel-
hafter Vertreter der Religion und Gewissensfreiheit. Wenn auch
 
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