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der Inserate auf den Plakat
tafeln der Heidelb. Zeitung
und den Plakatsäulen.
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262.
Freitag, den 9. November
I960.
Die Vorgänge in China.
Der Times wird aus Shanghai gemeldet: Der stell-
^ertretende Vicckönig der Provinz Tschili, Tingyung,
Tatarengcneral Kueiheng und der Oberst Wang-
ischaume sind gemäß dem Urtheil des Kriegsgerichts
iu Paotingfu erschossen worden.
Hiermit ist die Frage, ob Graf Waldersee die Todes-
ürtheile bestätigen würde, oder ob man die Antwort des
Kaisers von China auf etwaige Anfragen Li-Hung-Tschangs
"bwarren solle, erledigt. Das Kriegsgericht hat gesprochen,
7^ Urtheil wird ausgeführt. Es ist anzunehmen, daß es
üs Zukunft nicht anders sein wird. Eine große moralische
Wirkung der Ausführung der Todesurtheile auf die
ustlicsische Bevölkerung ist mit Sicherheit zu erwarten. Die
Wirkung wäre noch größer gewesen, wenn sich der Kaiser
Urtheil angeschlossen hätte, weil dann die ganze
Emilie der Verurtheilten und selbst noch die nachfolgenden
^schlechter davon mitbetroffcn würden. Allein eine kaiser-
^>che Kundgebung in dieser Art scheint nicht erfolgt zu
lkln. Der kaiserliche Hof ist noch nicht gewillt, sich mit
Mächten auszugleichen.
Der Präsident des Handelsamts, Tschungli, wurde
den Franzosen in der Nähe von Peking verhaftet
Die Vicckönige des Aangtsegebietes zeigen große Be-
grüß, weil der Hof sich noch immer denjenigen Man
zeigt, welche den Fremden freundlich
sorl
^rtnen abgeneigt
^linnt sind.
^ Zwei Bataillone Marineinfanterie und Zuaven, zwei
^otterieen und eine Schwadron Kavallerie sind aus Peking
6. ds. nach Couning abgegangen, um das kaiserliche
^rab zu besetzen.
.. Sonst liegen bemerkenswerthe Meldungen aus Nord-
Mtia nicht vor. Aus Hongkong wird berichtet, im Zu-
!?üiinenhang mit der Schlagentzündung im Damen von
Danton sei der Reformer Szkinu zum Tode ver-
*theilt worden. Ein anderer Reformer sei verhaftet
worden. Weitere Verhaftungen ständen in Aussicht.
Zu den Wahlen in Nordamerika.
Man nimmt an, daß die Republikaner im Abgeordneten-
g. ^ eine Mehrheit von über 50 Stimmen haben werden,
im Senat haben sie Aussicht auf Stimmenzuwachs.
Die Mehrheit für Mac Kinley als Präsidenten ist,
^ schon mehrfach gemeldet, sicher. Ganz so groß, wie
im ersten Augenblick schien, ist der Triumph Mac
^üileys nicht. Im Osten ist die Zahl der republikanischen
^Wähler zurückgegangen, aber dieser Verlust wird aus-
Michm durch die Zunahme an solchen Stimmen in den
^Maaten, woraus sich ergibt, daß die Deutschen in
fasse f^ Mac Kinley stimmten. Ohne die Deutschen
aren die Staaten Ohio, Indiana, Illinois, von denen
abhing, nicht zu gewinnen gewesen. Die Deutschen
^aren durchweg gegen eine Gefährdung der gesunden
Wahrung, und ihre Furcht vor der Silberwährung war
^rker als alle Mahnungen von Schurz zur Rettung der
Fassung vor einer imperialistischen Dictatur.
w. Auch in Deutschland wird die nunmehr gesicherte
'ederwahl Mac Kinleys von den Blättern aller Partei-
2jungen freundlich ausgenommen. Die Nordd. Allg.
Z^tung sagt: „Wir schließen uns gern der Zuversicht
h ' daß Mac Kinley auch während der neuen Admini-
^ deren Antritt wir ihn aufrichtig beglück-
.?f?>chen, ein gutes und freundschaftliches Verhältniß
Elchen dem deutschen Reiche und dem großen trans-
^ antjfchea Freistaate, schon wegen der vielverflochtenen
^Kehunaen deiner Länder, zu wahren bereit sein wird."
Deutsches Reich.
— Dem Bundesrath ging der Etat für das
Schutzgebiet in Samoa zu, der mit 266000 Mark
balancirt. Der Reichszuschuß beträgt 145 000 Mark. Der
an der Spitze der Selbstverwaltung stehende Häuptling
erhält ein Jahresgehalt von 3000 Mk. Der Etat für die
Verwaltung der Karolinen-, Palaos- u. Marianen-
Jnseln balancirt mit 311500 Mk., bei einem Reichs-
zuschuß von 286500 Mk.
— In der Kriegsmarine sind bekanntlich die Be-
förderungsverhältnisse gegenwärtig außerordentlich günstig,
da infolge der Vergrößerung der Flotte eine große Anzahl
Stellen besetzt werden muß. Um nun allen, besonders
auch den süddeutschen Bundesstaaten, diese günstigen Ver-
hältnisse zu Gute kommen zu lassen, ist über den Eintritt
der Zöglinge süddeutscher höherer Lehranstalten, deren
Schulschluß in den Hochsommer fällt, in die kaiserliche
Marine neuerdings eine wichtige Verordnung ergangen.
Der Erlaß vom Februar ds. Js., der den Schülern der
bayrischen höheren Lehranstalten Erleichterungen für den
Eintritt als Seekadetten in die Marine gewährte, ist jetzt
auf die Zöglinge höherer Lehranstalten in Württemberg,
Baden und Elsaß-Lothringen, sowie des Gymnasiums in
Mainz ausgedehnt worden. Darnach ist zum Eintritt als
Seekadett in die Marine die Beibringung der Bescheinigung
des Lehrkollegiums im April über die voraussichtliche Ver-
setzung in die 8. Klasse gleichbedeutend mit der Bei-
bringung des Zeugnisses derReife für die Prima und die
Beibringung der Bescheinigung über das voraussichtliche
Bestehen der Reifeprüfung für die Zöglinge der 9. Klasse
gleichbedeutend mit der Vorlegung eines vollgiltigen
Abiturientenzeugnisses.
— Die Seesoldaten Haupt und Gastmanu sind in
China an Darmtyphus gestorben.
— Der Prozeß Sternberg wird aus Gründen,
denen die Berechtigung nicht abzusprechen ist, unter Aus-
schluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Trotzdem
kommt alles in die Oeffentlichkeit, und die der Presse
gegebene Erlaubniß zur Verbreitung derVer-
handlungen bedeutet eine unendlich größere Oeffentlich-
keit als die Anwesenheit einiger hundert Zuhörer. So
hat denn, schreibt die Köln. Ztg-, in dem Augenblick, wo
die Angelegenheit anfing, ein hohes öffentliches Interesse
zu haben, der Gerichtshof selbst erkannt, daß es ohne
Oeffentlichkeit nicht gehe und daß er zum mindesten eine
Berichterstattung durch die Presse zulassen müsse. Es liegt
in diesem Beschlüsse eine Anerkennung des Werthes der
Oeffentlichkeit, wie sie schlagender nicht gedacht werden
kann: das Zugeständniß, daß bei solchen Vorgängen nur
die breiteste Oeffentlichkeit im Stande ist, für gewisse Ver-
gehen die entsprechende Sühne zu schaffen und vor allem
die Wiederkehr unhaltbarer Zustände zu verhindern. Wie
auch das Urtheil des Gerichtes ausfallen möge, gleichviel
ob weitere Prozesse sich an diesen Fall knüpfen oder nicht,
durch die Zuziehung der Oeffentlichkeit ist ein ganz anderes
Licht geschaffen, es ist ermöglicht, in ganz anderer Weise
in lichtscheues Dunkel zu leuchten und die Besserung, wenn
sie nicht freiwillig gegeben wird, zu erzwingen. Daß der
Gerichtshof erkannt hat, daß hier die weitere Ausschließung
der Oeffentlichkeit trotz formaler und anderer schwerwiegen-
der Gründe nicht mehr thunlich sei, für diese richtige Er-
kenntniß gebührt ihm die Anerkennung aller, die in der
Oeffentlichkeit den mächtigsten Schutz unserer Reichseinrich-
tuugeu sehen und die stärkste Säule, die das Vertrauen
des Volkes auf die Gerechtigkeit aufrecht erhält.
— Die Nordd. Allg. Ztg. schreibt: Der aus Anlaß
eines anscheinend von Argentinien eingeschleppten P e st-
falles vom kaiserlichen Gesundheitsamt nach Bremen ent-
sandte Regierungsrath Kessel ist nach Berlin zurückgekehrt.
Die aufs sorgfältigste angestellten Ermittlungen hinsichtlich
der mit dem Kranken in Berührung gekommenen Personen
berechtigen zu der Hoffnung, daß der Fall vereinzelt
bleibe. Mit der Möglichkeit, daß derartige Einzelfälle
eingeschleppt werden können, muß auch bei der heutigen
Verkehrsentwicklung gerechnet werden, und es ist Pflicht,
derartige Fälle rechtzeitig zu entdecken, und bei Verdacht
sofort Vorkchrungsmaßregeln zu treffen.
— Ueber die Ausreise der Truppen-Transport-
dampfer nach China liegen folgende letzte Meldungen vor:
Darmstadt (N.D. Lloyd) 6. Nov. Stngapore passirt (Heimreise).
Baden. L.O. Karlsruhe, 8. Nov. Der Eisen-
bahnreform verein hielt heute Abend eine außer-
ordentlich stark besuchte Versammlung ab, in der Prof.
Dr. Böhtlingk und Rechtsanwalt Dr. Früh auf die
Stellungnahme des Landtags zum Eisenbahnbudget
einer scharfen Kritik unterzogen. Zum Schluß wurde eine
Resolution angenommen, in der Ermäßigung der
Tarife, Vermehrung der Beamten und Arbeiter und der
Betriebsmittel, Verbesserung der Einkommensbezüge sowie
der Wagenbeistellung, Erweiterung der Bahnhöfe, Schaffung
neuer Geleise, Vermehrung der Züge und Erhaltung der
Selbständigkeit der badischen Staatsbahnen gefordert wird.
An die Referate knüpfte sich eine leb hafte Diskussion,
die bis '/,12 Uhr währte. Herrn Böhtlingk, dem eifrigen
Vorkämpfer der Eisenbahnreform, wurde ein Lorbeerkranz
überreicht.
— Pfarrer Wacker beklagt sich im Beob. darüber,
daß ihm anläßlich des Todes des Pfarrers Honold in
Bonndorf Jemand, dessen Muth bis zu anonymen Briefen
reicht, aus Konstanz folgendes Billet zugeschickt hat:
Plärrer Honold ist gestorben. Sagt Jvnen Ihr priester-
liches Gewissen oder ihr Privatgewiffen nichts — gar nichts?
Hoffentlich schließen Sie ihn nicht in Ihr heiliges Meßopfer
ein, — das wäre der reinste Hohn.
Aus Baden, 6. Nov. Die Straßb. Post berichtet:
Heute ist in Freiburg das katholische Kirchen-
steuerparlament zusammengetreten. Den aus in-
direkter Wahl hervorgegangenen Abgeordneten des Landes
hat das erzbischöfliche Ordinariat die Geschäftsordnung
gleich ein für alle Mal vorgeschrieben und den betreffenden
Herren gesagt, über was sie zu reden und über was sie
zu schweigen haben. Zu reden haben sie lediglich über die
Steuervorlagen, und zu schweigen über die Fragen des
„Dogmas, der Verfassung, der Disciplin und der Litur-
gie". Wenn also z.B. ein Abgeordneter sagen wollte: „Die
katholischen Bauern würden die Kirchensteuer
lieber bezahlen, wenn man ihnen das alte
deutsche Rituale gelassen hätte", so würde der
Mann zur Ordnung gerufen und zum Schweigen ver-
urtheilt werden. Die Herren Abgeordneten sind sämmtlich
„gute Katholiken" — die liberalen Katholiken, die auch
bezahlen dürfen, haben keine Vertreter in diesem Parla-
ment —, die „guten Katholiken" aber werden diese Ge-
schäftsordnung widerspruchslos hinnehmen. Wenn aber
eine weltliche Regierung ihre Abgeordneten zusammenriefe
mit dem Zusatz, es sei lediglich das Budget zu berathen
und über Verfassung und Gesetze des Staates, über Dis-
ciplin und Verordnungen der Regierung sei zu schweigen
— dann würden di; obigen „guten Katholiken" den Kreuz-
zug predigen gegen eine solche „reaktionäre Staatsbehörde",
welche „freie Männer für stumm erkläre". Wie detaillirt
bei diesem Steuerparlament alles von oben angeordnet
ist, geht auch daraus hervor, daß selbst der einleitende
Gottesdienst mit Sperrschrift als vorgeschrieben bezeichnet
wurde.
SS)
Ein Opfer.
Roman von B. Saworra.
Autorisirte Bearbeitung nach dem Englischen.
(Fortsetzung.)
sch^vrk stand hochausgerichtet neben dem weit zurückgezogenen
beeren Seidenvorhang. der die beiden Festsäle trennte; er
k>„.°"chtcte aufmerksam die Thür, durch welche die Gäste
tzj "Men. Georg blickte ebenso eifrig nach derselben Richtung,
stnr.Junten von ihrem Platz aus noch die obersten Treppen«
n?, „übersehen.
sok UotzOch fuhr Georg zurück; er trat einen Schritt vor und
Warf nach der Eingavgslhür.
"(Mas hast Du, Georg?" fragte Mark.
^in-»khts! Wohl ein Jrrthum," erwiderte Georg und nahm
jg s„c"orige Stellung wieder ein. „Ich glaubte ein Gesicht
,aen — abxr natürlich — es kann ja nicht sein."
-Ein Gesicht? — wessen Gesicht?" fragte Mark,
lich'^innerst Du Dich des Vorgangs, von dem ich Dir neu»
b>a>,^"khltc? Des Mädchens, das in jener Nacht mit Haupt-
, "L Vomerry reiste?"
>ch Nacht, als der Eisenbahnunfall stattfand? — Ja.
Innere mich sehr wohl. Sie ist doch nicht hier?"
ren"^'W Dome kam die Treppe herauf und ich hätte schwö-
«lick s^aen, daß sie es war. Ich konnte sie nur einen Augen-
ünf> ^aen, sie verschwand hinter jenem Wald von Palmen
^ Z°"enkräutern."
^körnst bat wieder ihren guten Geschmack bei der
web?,, bewiesen," bemerkte Mark zerstreut. „Ich glaubie
isür -„lvkiditd und Frau Monlock zu sehen. Wenn die Leute
K von ^ ^n Weg an der Thür freigeben wollten! Nelly
Au ihren Gästen mitgezogen worden; sie empfängt die
Aora "^wenden schon an der Treppe." Noch einmal machte
«tir» ßflWllkürlich eine Bewegung; mit zusammengezogencr
" blickte er fest nach der Thür. „Es ist doch das Mäd-
chen, das in jener Unglücksnacht mit Pomerry zusammen
war; ich würde es unter Millionen wiedererkennen."
Mark Hörle nicht, was er sagte. Mit glückstrahlendem
Gesicht rief er:
„Judith kommt, Georg, sie tritt eben in den Saal."
»Judith — Judith Vcrrell?" murmelte Georg.
»Wir wollen ihr entgegen gehen. Komm, Georg, ich freue
mich, Dich ihr endlich vorstcllen zu können."
„Warte, Mark!"
So hart, so fremd klang des Freundes Stimme, daß
Mark unwillkürlich stehen blieb und sich erstaunt nach ihm
umwandte.
»Wo ist Fräulein Verrel? Zeige sie mir!"
„Dort, dicht neben Frau Mortlock. — Frau Mortlock
spricht jetzt zu ihr. Das hübsche Mädchen in Weiß. Siehst
Du sie?"
„Ja — ich sehe sie."
„Gieb zu, daß sie das lieblichste Mädchen ist, das Du je
gesehen hast."
Georg schwieg. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt;
die tiefliegenden Augen blickten streng und kalt.
„Du willst es nicht zugeben?" lachte Mark, gutgelaunt.
„Ich habe ein so liebliches Mädchen — schon einmal ge-
sehen," war die kurze Antwort.
Mark lächelte und versuchte weiter vorzudringen: er
glaubte, Georg folgte ihm. Erst als er Judith und Frau
Mortlock erreicht und sie begrüßt hatte, vermißte er den
Freund.
„Georg ist hier," sagte er; dann wandte er den Kopf um
und sah verlegen nach rechts und links. „Wo ist er geblieben ?"
fuhr er erstaunt fort; „in diesem Gewühl scheint man sich
heut immer zu verlieren."
Georg Grävener schien vorläufig allerdings verschwunden
zu sein. Sein Freund sah sich in beiden Sälen vergeblich
nach ihm um.
Georg kannte Nellys Haus so gut wie sein eignes. Er
batte einen Vorhang zurückgezogen, der auf einen Korridor
führte; er durchschritt ihn und ging die Treppe hinunter, auf
der man zu Nellys kleinem Garten gelangte. Er mußte Zeit
haben, seine Gedanken zu sammeln! Mit verschränkten
Armen ging er unter den Platanen auf und nieder — wohl
eine Stunde — unermüdlich, gleichmäßig — in tiefem Nach-
denken.
Endlich blieb er stehen-
„Kann ich mich getäuscht haben?" fragte er sich laut, in
zweifelndem Ton. „Es sind drei Jahre seitdem vergangen.
Ist mein Gedächtniß so untrüglich? Drei Jahre — drei
Jahre und darüber — es ist eine lange Zeit, um ein Gesicht
nach so flüchtiger Begegnung wieder zu erkennen."
Er wollte sich selbst trösten, wollte es nicht wahr haben.
Sinnend blickte er nach dem dunklen, mit Sternen besäeten
Himmel empor.
An dem Theil des Gartens, der an das Haus stieb, befand
sich ein kleines Gewächshaus; es war durch bunte Pspier--
laternen erleuchtet: das farbige Licht warf einen schwachen
Schein auf die Gartenwege. Georg lehnte sich an den knor-
rigen Stamm eines alten Baumes und schaute starr, in Ge-
danken verloren, nach der Thür des Gewächshauses.
Noch eine halbe Stunde verstrich; dann wurde die Thür
plötzlich geöffnet. Ein Heller Lichtschein strömte heraus und
warf einen röthlichen Schimmer auf den Kiesweg und den
nahen Rasenplatz. Zwei Gestalten erschienen in der offenen
Thür. Georg blieb unbemerkt in dem Schatten der Bäume
stehen.
»Wie kühl ist es hier!" sagte das Mädchen leise mit lieb-
licher Stimme. „Was für ein herrlicher Abend! Sogar ein
Londoner Garten sieht bei dieser Beleuchtung hübsch aus."
„Was gefällt Dir besser. Judith — dieser Sternenschunmer
oder Nellys strahlende Gasflammen oben."
.Beides."
»Beides am besten?"
»Ja — warum nicht?" war die lachende Antworr in
süßem Schmeichelton- „Heute Abend gefällt mir Alles am
besten. Mache mich nicht unzufrieden."
_ (Fortsetzung folgt.)
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der Inserate auf den Plakat
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262.
Freitag, den 9. November
I960.
Die Vorgänge in China.
Der Times wird aus Shanghai gemeldet: Der stell-
^ertretende Vicckönig der Provinz Tschili, Tingyung,
Tatarengcneral Kueiheng und der Oberst Wang-
ischaume sind gemäß dem Urtheil des Kriegsgerichts
iu Paotingfu erschossen worden.
Hiermit ist die Frage, ob Graf Waldersee die Todes-
ürtheile bestätigen würde, oder ob man die Antwort des
Kaisers von China auf etwaige Anfragen Li-Hung-Tschangs
"bwarren solle, erledigt. Das Kriegsgericht hat gesprochen,
7^ Urtheil wird ausgeführt. Es ist anzunehmen, daß es
üs Zukunft nicht anders sein wird. Eine große moralische
Wirkung der Ausführung der Todesurtheile auf die
ustlicsische Bevölkerung ist mit Sicherheit zu erwarten. Die
Wirkung wäre noch größer gewesen, wenn sich der Kaiser
Urtheil angeschlossen hätte, weil dann die ganze
Emilie der Verurtheilten und selbst noch die nachfolgenden
^schlechter davon mitbetroffcn würden. Allein eine kaiser-
^>che Kundgebung in dieser Art scheint nicht erfolgt zu
lkln. Der kaiserliche Hof ist noch nicht gewillt, sich mit
Mächten auszugleichen.
Der Präsident des Handelsamts, Tschungli, wurde
den Franzosen in der Nähe von Peking verhaftet
Die Vicckönige des Aangtsegebietes zeigen große Be-
grüß, weil der Hof sich noch immer denjenigen Man
zeigt, welche den Fremden freundlich
sorl
^rtnen abgeneigt
^linnt sind.
^ Zwei Bataillone Marineinfanterie und Zuaven, zwei
^otterieen und eine Schwadron Kavallerie sind aus Peking
6. ds. nach Couning abgegangen, um das kaiserliche
^rab zu besetzen.
.. Sonst liegen bemerkenswerthe Meldungen aus Nord-
Mtia nicht vor. Aus Hongkong wird berichtet, im Zu-
!?üiinenhang mit der Schlagentzündung im Damen von
Danton sei der Reformer Szkinu zum Tode ver-
*theilt worden. Ein anderer Reformer sei verhaftet
worden. Weitere Verhaftungen ständen in Aussicht.
Zu den Wahlen in Nordamerika.
Man nimmt an, daß die Republikaner im Abgeordneten-
g. ^ eine Mehrheit von über 50 Stimmen haben werden,
im Senat haben sie Aussicht auf Stimmenzuwachs.
Die Mehrheit für Mac Kinley als Präsidenten ist,
^ schon mehrfach gemeldet, sicher. Ganz so groß, wie
im ersten Augenblick schien, ist der Triumph Mac
^üileys nicht. Im Osten ist die Zahl der republikanischen
^Wähler zurückgegangen, aber dieser Verlust wird aus-
Michm durch die Zunahme an solchen Stimmen in den
^Maaten, woraus sich ergibt, daß die Deutschen in
fasse f^ Mac Kinley stimmten. Ohne die Deutschen
aren die Staaten Ohio, Indiana, Illinois, von denen
abhing, nicht zu gewinnen gewesen. Die Deutschen
^aren durchweg gegen eine Gefährdung der gesunden
Wahrung, und ihre Furcht vor der Silberwährung war
^rker als alle Mahnungen von Schurz zur Rettung der
Fassung vor einer imperialistischen Dictatur.
w. Auch in Deutschland wird die nunmehr gesicherte
'ederwahl Mac Kinleys von den Blättern aller Partei-
2jungen freundlich ausgenommen. Die Nordd. Allg.
Z^tung sagt: „Wir schließen uns gern der Zuversicht
h ' daß Mac Kinley auch während der neuen Admini-
^ deren Antritt wir ihn aufrichtig beglück-
.?f?>chen, ein gutes und freundschaftliches Verhältniß
Elchen dem deutschen Reiche und dem großen trans-
^ antjfchea Freistaate, schon wegen der vielverflochtenen
^Kehunaen deiner Länder, zu wahren bereit sein wird."
Deutsches Reich.
— Dem Bundesrath ging der Etat für das
Schutzgebiet in Samoa zu, der mit 266000 Mark
balancirt. Der Reichszuschuß beträgt 145 000 Mark. Der
an der Spitze der Selbstverwaltung stehende Häuptling
erhält ein Jahresgehalt von 3000 Mk. Der Etat für die
Verwaltung der Karolinen-, Palaos- u. Marianen-
Jnseln balancirt mit 311500 Mk., bei einem Reichs-
zuschuß von 286500 Mk.
— In der Kriegsmarine sind bekanntlich die Be-
förderungsverhältnisse gegenwärtig außerordentlich günstig,
da infolge der Vergrößerung der Flotte eine große Anzahl
Stellen besetzt werden muß. Um nun allen, besonders
auch den süddeutschen Bundesstaaten, diese günstigen Ver-
hältnisse zu Gute kommen zu lassen, ist über den Eintritt
der Zöglinge süddeutscher höherer Lehranstalten, deren
Schulschluß in den Hochsommer fällt, in die kaiserliche
Marine neuerdings eine wichtige Verordnung ergangen.
Der Erlaß vom Februar ds. Js., der den Schülern der
bayrischen höheren Lehranstalten Erleichterungen für den
Eintritt als Seekadetten in die Marine gewährte, ist jetzt
auf die Zöglinge höherer Lehranstalten in Württemberg,
Baden und Elsaß-Lothringen, sowie des Gymnasiums in
Mainz ausgedehnt worden. Darnach ist zum Eintritt als
Seekadett in die Marine die Beibringung der Bescheinigung
des Lehrkollegiums im April über die voraussichtliche Ver-
setzung in die 8. Klasse gleichbedeutend mit der Bei-
bringung des Zeugnisses derReife für die Prima und die
Beibringung der Bescheinigung über das voraussichtliche
Bestehen der Reifeprüfung für die Zöglinge der 9. Klasse
gleichbedeutend mit der Vorlegung eines vollgiltigen
Abiturientenzeugnisses.
— Die Seesoldaten Haupt und Gastmanu sind in
China an Darmtyphus gestorben.
— Der Prozeß Sternberg wird aus Gründen,
denen die Berechtigung nicht abzusprechen ist, unter Aus-
schluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Trotzdem
kommt alles in die Oeffentlichkeit, und die der Presse
gegebene Erlaubniß zur Verbreitung derVer-
handlungen bedeutet eine unendlich größere Oeffentlich-
keit als die Anwesenheit einiger hundert Zuhörer. So
hat denn, schreibt die Köln. Ztg-, in dem Augenblick, wo
die Angelegenheit anfing, ein hohes öffentliches Interesse
zu haben, der Gerichtshof selbst erkannt, daß es ohne
Oeffentlichkeit nicht gehe und daß er zum mindesten eine
Berichterstattung durch die Presse zulassen müsse. Es liegt
in diesem Beschlüsse eine Anerkennung des Werthes der
Oeffentlichkeit, wie sie schlagender nicht gedacht werden
kann: das Zugeständniß, daß bei solchen Vorgängen nur
die breiteste Oeffentlichkeit im Stande ist, für gewisse Ver-
gehen die entsprechende Sühne zu schaffen und vor allem
die Wiederkehr unhaltbarer Zustände zu verhindern. Wie
auch das Urtheil des Gerichtes ausfallen möge, gleichviel
ob weitere Prozesse sich an diesen Fall knüpfen oder nicht,
durch die Zuziehung der Oeffentlichkeit ist ein ganz anderes
Licht geschaffen, es ist ermöglicht, in ganz anderer Weise
in lichtscheues Dunkel zu leuchten und die Besserung, wenn
sie nicht freiwillig gegeben wird, zu erzwingen. Daß der
Gerichtshof erkannt hat, daß hier die weitere Ausschließung
der Oeffentlichkeit trotz formaler und anderer schwerwiegen-
der Gründe nicht mehr thunlich sei, für diese richtige Er-
kenntniß gebührt ihm die Anerkennung aller, die in der
Oeffentlichkeit den mächtigsten Schutz unserer Reichseinrich-
tuugeu sehen und die stärkste Säule, die das Vertrauen
des Volkes auf die Gerechtigkeit aufrecht erhält.
— Die Nordd. Allg. Ztg. schreibt: Der aus Anlaß
eines anscheinend von Argentinien eingeschleppten P e st-
falles vom kaiserlichen Gesundheitsamt nach Bremen ent-
sandte Regierungsrath Kessel ist nach Berlin zurückgekehrt.
Die aufs sorgfältigste angestellten Ermittlungen hinsichtlich
der mit dem Kranken in Berührung gekommenen Personen
berechtigen zu der Hoffnung, daß der Fall vereinzelt
bleibe. Mit der Möglichkeit, daß derartige Einzelfälle
eingeschleppt werden können, muß auch bei der heutigen
Verkehrsentwicklung gerechnet werden, und es ist Pflicht,
derartige Fälle rechtzeitig zu entdecken, und bei Verdacht
sofort Vorkchrungsmaßregeln zu treffen.
— Ueber die Ausreise der Truppen-Transport-
dampfer nach China liegen folgende letzte Meldungen vor:
Darmstadt (N.D. Lloyd) 6. Nov. Stngapore passirt (Heimreise).
Baden. L.O. Karlsruhe, 8. Nov. Der Eisen-
bahnreform verein hielt heute Abend eine außer-
ordentlich stark besuchte Versammlung ab, in der Prof.
Dr. Böhtlingk und Rechtsanwalt Dr. Früh auf die
Stellungnahme des Landtags zum Eisenbahnbudget
einer scharfen Kritik unterzogen. Zum Schluß wurde eine
Resolution angenommen, in der Ermäßigung der
Tarife, Vermehrung der Beamten und Arbeiter und der
Betriebsmittel, Verbesserung der Einkommensbezüge sowie
der Wagenbeistellung, Erweiterung der Bahnhöfe, Schaffung
neuer Geleise, Vermehrung der Züge und Erhaltung der
Selbständigkeit der badischen Staatsbahnen gefordert wird.
An die Referate knüpfte sich eine leb hafte Diskussion,
die bis '/,12 Uhr währte. Herrn Böhtlingk, dem eifrigen
Vorkämpfer der Eisenbahnreform, wurde ein Lorbeerkranz
überreicht.
— Pfarrer Wacker beklagt sich im Beob. darüber,
daß ihm anläßlich des Todes des Pfarrers Honold in
Bonndorf Jemand, dessen Muth bis zu anonymen Briefen
reicht, aus Konstanz folgendes Billet zugeschickt hat:
Plärrer Honold ist gestorben. Sagt Jvnen Ihr priester-
liches Gewissen oder ihr Privatgewiffen nichts — gar nichts?
Hoffentlich schließen Sie ihn nicht in Ihr heiliges Meßopfer
ein, — das wäre der reinste Hohn.
Aus Baden, 6. Nov. Die Straßb. Post berichtet:
Heute ist in Freiburg das katholische Kirchen-
steuerparlament zusammengetreten. Den aus in-
direkter Wahl hervorgegangenen Abgeordneten des Landes
hat das erzbischöfliche Ordinariat die Geschäftsordnung
gleich ein für alle Mal vorgeschrieben und den betreffenden
Herren gesagt, über was sie zu reden und über was sie
zu schweigen haben. Zu reden haben sie lediglich über die
Steuervorlagen, und zu schweigen über die Fragen des
„Dogmas, der Verfassung, der Disciplin und der Litur-
gie". Wenn also z.B. ein Abgeordneter sagen wollte: „Die
katholischen Bauern würden die Kirchensteuer
lieber bezahlen, wenn man ihnen das alte
deutsche Rituale gelassen hätte", so würde der
Mann zur Ordnung gerufen und zum Schweigen ver-
urtheilt werden. Die Herren Abgeordneten sind sämmtlich
„gute Katholiken" — die liberalen Katholiken, die auch
bezahlen dürfen, haben keine Vertreter in diesem Parla-
ment —, die „guten Katholiken" aber werden diese Ge-
schäftsordnung widerspruchslos hinnehmen. Wenn aber
eine weltliche Regierung ihre Abgeordneten zusammenriefe
mit dem Zusatz, es sei lediglich das Budget zu berathen
und über Verfassung und Gesetze des Staates, über Dis-
ciplin und Verordnungen der Regierung sei zu schweigen
— dann würden di; obigen „guten Katholiken" den Kreuz-
zug predigen gegen eine solche „reaktionäre Staatsbehörde",
welche „freie Männer für stumm erkläre". Wie detaillirt
bei diesem Steuerparlament alles von oben angeordnet
ist, geht auch daraus hervor, daß selbst der einleitende
Gottesdienst mit Sperrschrift als vorgeschrieben bezeichnet
wurde.
SS)
Ein Opfer.
Roman von B. Saworra.
Autorisirte Bearbeitung nach dem Englischen.
(Fortsetzung.)
sch^vrk stand hochausgerichtet neben dem weit zurückgezogenen
beeren Seidenvorhang. der die beiden Festsäle trennte; er
k>„.°"chtcte aufmerksam die Thür, durch welche die Gäste
tzj "Men. Georg blickte ebenso eifrig nach derselben Richtung,
stnr.Junten von ihrem Platz aus noch die obersten Treppen«
n?, „übersehen.
sok UotzOch fuhr Georg zurück; er trat einen Schritt vor und
Warf nach der Eingavgslhür.
"(Mas hast Du, Georg?" fragte Mark.
^in-»khts! Wohl ein Jrrthum," erwiderte Georg und nahm
jg s„c"orige Stellung wieder ein. „Ich glaubte ein Gesicht
,aen — abxr natürlich — es kann ja nicht sein."
-Ein Gesicht? — wessen Gesicht?" fragte Mark,
lich'^innerst Du Dich des Vorgangs, von dem ich Dir neu»
b>a>,^"khltc? Des Mädchens, das in jener Nacht mit Haupt-
, "L Vomerry reiste?"
>ch Nacht, als der Eisenbahnunfall stattfand? — Ja.
Innere mich sehr wohl. Sie ist doch nicht hier?"
ren"^'W Dome kam die Treppe herauf und ich hätte schwö-
«lick s^aen, daß sie es war. Ich konnte sie nur einen Augen-
ünf> ^aen, sie verschwand hinter jenem Wald von Palmen
^ Z°"enkräutern."
^körnst bat wieder ihren guten Geschmack bei der
web?,, bewiesen," bemerkte Mark zerstreut. „Ich glaubie
isür -„lvkiditd und Frau Monlock zu sehen. Wenn die Leute
K von ^ ^n Weg an der Thür freigeben wollten! Nelly
Au ihren Gästen mitgezogen worden; sie empfängt die
Aora "^wenden schon an der Treppe." Noch einmal machte
«tir» ßflWllkürlich eine Bewegung; mit zusammengezogencr
" blickte er fest nach der Thür. „Es ist doch das Mäd-
chen, das in jener Unglücksnacht mit Pomerry zusammen
war; ich würde es unter Millionen wiedererkennen."
Mark Hörle nicht, was er sagte. Mit glückstrahlendem
Gesicht rief er:
„Judith kommt, Georg, sie tritt eben in den Saal."
»Judith — Judith Vcrrell?" murmelte Georg.
»Wir wollen ihr entgegen gehen. Komm, Georg, ich freue
mich, Dich ihr endlich vorstcllen zu können."
„Warte, Mark!"
So hart, so fremd klang des Freundes Stimme, daß
Mark unwillkürlich stehen blieb und sich erstaunt nach ihm
umwandte.
»Wo ist Fräulein Verrel? Zeige sie mir!"
„Dort, dicht neben Frau Mortlock. — Frau Mortlock
spricht jetzt zu ihr. Das hübsche Mädchen in Weiß. Siehst
Du sie?"
„Ja — ich sehe sie."
„Gieb zu, daß sie das lieblichste Mädchen ist, das Du je
gesehen hast."
Georg schwieg. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt;
die tiefliegenden Augen blickten streng und kalt.
„Du willst es nicht zugeben?" lachte Mark, gutgelaunt.
„Ich habe ein so liebliches Mädchen — schon einmal ge-
sehen," war die kurze Antwort.
Mark lächelte und versuchte weiter vorzudringen: er
glaubte, Georg folgte ihm. Erst als er Judith und Frau
Mortlock erreicht und sie begrüßt hatte, vermißte er den
Freund.
„Georg ist hier," sagte er; dann wandte er den Kopf um
und sah verlegen nach rechts und links. „Wo ist er geblieben ?"
fuhr er erstaunt fort; „in diesem Gewühl scheint man sich
heut immer zu verlieren."
Georg Grävener schien vorläufig allerdings verschwunden
zu sein. Sein Freund sah sich in beiden Sälen vergeblich
nach ihm um.
Georg kannte Nellys Haus so gut wie sein eignes. Er
batte einen Vorhang zurückgezogen, der auf einen Korridor
führte; er durchschritt ihn und ging die Treppe hinunter, auf
der man zu Nellys kleinem Garten gelangte. Er mußte Zeit
haben, seine Gedanken zu sammeln! Mit verschränkten
Armen ging er unter den Platanen auf und nieder — wohl
eine Stunde — unermüdlich, gleichmäßig — in tiefem Nach-
denken.
Endlich blieb er stehen-
„Kann ich mich getäuscht haben?" fragte er sich laut, in
zweifelndem Ton. „Es sind drei Jahre seitdem vergangen.
Ist mein Gedächtniß so untrüglich? Drei Jahre — drei
Jahre und darüber — es ist eine lange Zeit, um ein Gesicht
nach so flüchtiger Begegnung wieder zu erkennen."
Er wollte sich selbst trösten, wollte es nicht wahr haben.
Sinnend blickte er nach dem dunklen, mit Sternen besäeten
Himmel empor.
An dem Theil des Gartens, der an das Haus stieb, befand
sich ein kleines Gewächshaus; es war durch bunte Pspier--
laternen erleuchtet: das farbige Licht warf einen schwachen
Schein auf die Gartenwege. Georg lehnte sich an den knor-
rigen Stamm eines alten Baumes und schaute starr, in Ge-
danken verloren, nach der Thür des Gewächshauses.
Noch eine halbe Stunde verstrich; dann wurde die Thür
plötzlich geöffnet. Ein Heller Lichtschein strömte heraus und
warf einen röthlichen Schimmer auf den Kiesweg und den
nahen Rasenplatz. Zwei Gestalten erschienen in der offenen
Thür. Georg blieb unbemerkt in dem Schatten der Bäume
stehen.
»Wie kühl ist es hier!" sagte das Mädchen leise mit lieb-
licher Stimme. „Was für ein herrlicher Abend! Sogar ein
Londoner Garten sieht bei dieser Beleuchtung hübsch aus."
„Was gefällt Dir besser. Judith — dieser Sternenschunmer
oder Nellys strahlende Gasflammen oben."
.Beides."
»Beides am besten?"
»Ja — warum nicht?" war die lachende Antworr in
süßem Schmeichelton- „Heute Abend gefällt mir Alles am
besten. Mache mich nicht unzufrieden."
_ (Fortsetzung folgt.)