5eite
Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für „Innen-Dekoratioit
panuar-bseft.
!er "Maturalismus irr der Mrchitektur.
ils Rubinstein eines Tages über einen jungen Debütanten gefragt
wurde: „Wie spielte der junge Mann gestern Abend?", da antwortete
er: „Sehr gut, vortrefflich, sie spielen alle gut — schlecht spielt man
heute gar nicht mehr." Und von Schumann geht das Wort: „Es hat gefallen",
d.h. „es hat nicht gefallen", sagen die Leute. „Als ob es nichts Höheres gäbe, als den
Leuten zu gefallen." In _
beiden Aussprüchen liegt so
recht die Aarakteristik der
modernen Aunst, soweit sie
für die breiten Massen ar-
beitet und unsere moderne
Aunst arbeitet für die breite
Masse. Das zeigt sich auch
in der Architektur. Welches
Städtebild inan auch an
seinem Auge vorüberziehen
lassen mag, immer bleibt
das Auge auf einer Reihe
architektonischer Schöpfun-
gen haften, welche, ver-
glichen z.B. mit den Schöpf-
ungen unserer Architektur
der HO er und so er Jahre,
eine gewisse künstlerische
Reife, nicht selten auch
künstlerischen Schwung ver-
rathen. Das ist aber auch
in den meisten Fällen Alles.
Die Aunst begnügt sich hier
fast immer damit, mit
größerer oder geringerer
Treue und Geschicklichkeit
die Formen zu verwenden,
welche vor uns schon an-
dere Zeiten entstehen sahen,
welche unter ganz anderen
Aulturverhältnissengekeimt,
geblüht und wieder ihren
Niedergang gesehen haben
und die nun, herausgerissen
aus dem Zusammenhang,
aus der Umgebung, mit der
sie mit tausend und abet-
tausend feinen Wurzeln ver-
bunden waren, an eineStelle
verpflanzt werden, an die
sie als fremde Erscheinungen
einem feiner gearteten künst-
lerischen Empfindungsver-
mögen sofort auffallen. Es
ist freilich der schon oft er-
wähnte retrospektive Aa-
rakter unserer Zeit, der auch
hier seinen alles durchsetzen-
den Einfluß nichtverleugneu
kann. Ls war dem XIX.
Jahrhundert in seinem gan-
zen bisherigen verlaufe be-
schieden, ein rückwärts-
blickendes Jahrhundert zu
sein, das sich erst in seinem
letzten Jahrzehnt aufgcrafft
hat, ein vorwärtsblickendes
zu werden. Und das hat
der gewaltige Fortschritt ver-
anlaßt, den die Naturwissen-
schaften in den letzten drei
Dezennien genommen ha-
ben, ein Fortschritt, der eine
solche Macht entwickelt, daß
er im Begriffe ist, unsere ganze Aultur zu beherrschen. Wir fühlen dadurch aber
auch heute, daß wir eine Aultur haben, eine eigenartige, von uns geschaffene Aultur,
nicht eine fremde, erborgte. An die Stelle der Resignation, die z.B. im zweiten
Dezennium unseres Jahrhunderts herrschte und bis zum Beginne der 60er Jahre
andauerte, ist ein bestimmtes Etwas, ein fester Punkt, eine sichere Basis getreten,
auf die sich unsere moderne Aultur, wir können sagen kühn und gewaltig aufbaut,
dank des ungeahnten Aufschwungs der realen Wissenschaften. Am 8. Juli f8f8
konnte noch Göthe in einem Briefe an A. L. Schubarth schreiben: „Es ist ganz
einerlei, in welchem Areise wir unsere Aultur beginnen, es ist ganz gleichgültig,
von wo aus wir unsere Bildung in's fernere Leben richten, wenn es nur ein Areis,
von Albert Hofmann.
wenn es nur ein Wo ist." Das ist doch heute ganz anders geworden, wie schön
sagt doch Berthold Auerbach in seinen „Tausend Gedanken des Lollaborators":
„Wir sind zur Medicin und zur positiven Religion vorgeschritten, wir sind aus
der Unmittelbarkeit des Naturlebens heraus, zurück können wir nicht, darum vor-
wärts und darüber hinaus zur bewußten Lenkung der Naturkräfte in der freien,
leiblichen und geistigen Diä-
tetik." In diesen Worten
liegt die ganze Signatur
unserer Zeit und das sorg-
liche Suchen und Forschen
der Naturwissenschaft, das
gewissenhafte Beobachten
der Ursachen der Erschei-
nungen der Sinneswelt, der
ganze gewaltige, dürstende
Zug nach Wahrheit, der
unsere Zeit durchzieht, hat
auch die Architektur ergriffen
und beginnt hier eine Reihe
von Schöpfungen zu zei-
tigen, welche, aus den allge-
meinen Aulturverhältnissen
und demJeitkarakter heraus
geschaffen, als Vorläufer
einer bis zu einem hohen
Grade zutreffenden Aultur
gelten können. Freilich sind
es noch nicht viele künstle-
rische Aräfte, welche, unbe-
kümmert um das Urtheil
der Menge, das Selbstver-
trauen — das künstlerische
Aönnen überhaupt voraus-
gesetzt -— so weit steigern,
daß sie wiederum mit Auer-
bach's Lollaborator sagen
könnten: „Was ich zu bie-
ten habe, will nicht als all-
gemein gültige Wahrheit
erscheinen, ist aber meine
Wahrheit und mag Jeder-
mann Zusehen, was davon
auch seine Wahrheit werden
kann." Die meisten geben
sich auch heute noch zufrie-
den, wenn es heißt: „Ls
hat gefallen." „Als ob es
nichts Höheres gäbe, als
den Leuten zu gefallen",
sagte Schumann. Es trifft
sich auch nicht selten, daß
sich die größere Gemeinde
der Aünstler, die arbeitet
um zu gefallen, die Bezeich-
nung Idealisten zulegt, aber
wie Recht hat nicht auch
hier Auerbachs Lollabora-
tor, wenn er sagt: „Die so-
genannten Realisten, die
nicht Materialisten sind, ha-
ben weit mehr wahren
Idealismus als die Idea-
listen als solche oder die
Ucberschwänglichen. Sie
glauben und wissen die
Schönheit, Güte, Größe,
Tugend in der wirklichen
Welt; sie kennen und halten
sie." Solche Realisten unter
den Künstlern brauchen wir
am Schluffe unseres XIX. Jahrhunderts, damit es gleich dem Schluffe des XVIII.Jahr-
hunderts werde, eine Epoche, welche eine große neue Zeit, eine glänzende Aultur-
periode der Menschheit einleite. Dazu bedarf es aber auch der sorgsamsten Pflege
der künstlerischen Eigenart. Denn es gehört zum Aarakteristischen der inenschlichen
Natur, daß jedem einzelnen Menschen eine nur ihm angehörige Eigenthümlichkeit
einwohnt, durch deren Entwickelung er zu einem vollkommenen wird, und so und
nicht anders wiederholt sich dies in jedem Volke. In der vollendeten Ausbildung
dieser Eigenthümlichkeit liegt die sittliche und mit ihr jede andere Größe des
Menschen, wie die Volkstümlichkeit und die Nationalgröße der Völker. Sie er-
wärmt und erleuchtet die Gegenwart, wie die Zukunft, nicht nach ihrer zeitlichen
* Abbildung Nr. 27s). Nokroko-Thürs mit Amorettenmalerei.
Entworfen u. gezeichnet von Heinrich Jesora, Dresden. — Näheres vergl. Beschreibung.
Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für „Innen-Dekoratioit
panuar-bseft.
!er "Maturalismus irr der Mrchitektur.
ils Rubinstein eines Tages über einen jungen Debütanten gefragt
wurde: „Wie spielte der junge Mann gestern Abend?", da antwortete
er: „Sehr gut, vortrefflich, sie spielen alle gut — schlecht spielt man
heute gar nicht mehr." Und von Schumann geht das Wort: „Es hat gefallen",
d.h. „es hat nicht gefallen", sagen die Leute. „Als ob es nichts Höheres gäbe, als den
Leuten zu gefallen." In _
beiden Aussprüchen liegt so
recht die Aarakteristik der
modernen Aunst, soweit sie
für die breiten Massen ar-
beitet und unsere moderne
Aunst arbeitet für die breite
Masse. Das zeigt sich auch
in der Architektur. Welches
Städtebild inan auch an
seinem Auge vorüberziehen
lassen mag, immer bleibt
das Auge auf einer Reihe
architektonischer Schöpfun-
gen haften, welche, ver-
glichen z.B. mit den Schöpf-
ungen unserer Architektur
der HO er und so er Jahre,
eine gewisse künstlerische
Reife, nicht selten auch
künstlerischen Schwung ver-
rathen. Das ist aber auch
in den meisten Fällen Alles.
Die Aunst begnügt sich hier
fast immer damit, mit
größerer oder geringerer
Treue und Geschicklichkeit
die Formen zu verwenden,
welche vor uns schon an-
dere Zeiten entstehen sahen,
welche unter ganz anderen
Aulturverhältnissengekeimt,
geblüht und wieder ihren
Niedergang gesehen haben
und die nun, herausgerissen
aus dem Zusammenhang,
aus der Umgebung, mit der
sie mit tausend und abet-
tausend feinen Wurzeln ver-
bunden waren, an eineStelle
verpflanzt werden, an die
sie als fremde Erscheinungen
einem feiner gearteten künst-
lerischen Empfindungsver-
mögen sofort auffallen. Es
ist freilich der schon oft er-
wähnte retrospektive Aa-
rakter unserer Zeit, der auch
hier seinen alles durchsetzen-
den Einfluß nichtverleugneu
kann. Ls war dem XIX.
Jahrhundert in seinem gan-
zen bisherigen verlaufe be-
schieden, ein rückwärts-
blickendes Jahrhundert zu
sein, das sich erst in seinem
letzten Jahrzehnt aufgcrafft
hat, ein vorwärtsblickendes
zu werden. Und das hat
der gewaltige Fortschritt ver-
anlaßt, den die Naturwissen-
schaften in den letzten drei
Dezennien genommen ha-
ben, ein Fortschritt, der eine
solche Macht entwickelt, daß
er im Begriffe ist, unsere ganze Aultur zu beherrschen. Wir fühlen dadurch aber
auch heute, daß wir eine Aultur haben, eine eigenartige, von uns geschaffene Aultur,
nicht eine fremde, erborgte. An die Stelle der Resignation, die z.B. im zweiten
Dezennium unseres Jahrhunderts herrschte und bis zum Beginne der 60er Jahre
andauerte, ist ein bestimmtes Etwas, ein fester Punkt, eine sichere Basis getreten,
auf die sich unsere moderne Aultur, wir können sagen kühn und gewaltig aufbaut,
dank des ungeahnten Aufschwungs der realen Wissenschaften. Am 8. Juli f8f8
konnte noch Göthe in einem Briefe an A. L. Schubarth schreiben: „Es ist ganz
einerlei, in welchem Areise wir unsere Aultur beginnen, es ist ganz gleichgültig,
von wo aus wir unsere Bildung in's fernere Leben richten, wenn es nur ein Areis,
von Albert Hofmann.
wenn es nur ein Wo ist." Das ist doch heute ganz anders geworden, wie schön
sagt doch Berthold Auerbach in seinen „Tausend Gedanken des Lollaborators":
„Wir sind zur Medicin und zur positiven Religion vorgeschritten, wir sind aus
der Unmittelbarkeit des Naturlebens heraus, zurück können wir nicht, darum vor-
wärts und darüber hinaus zur bewußten Lenkung der Naturkräfte in der freien,
leiblichen und geistigen Diä-
tetik." In diesen Worten
liegt die ganze Signatur
unserer Zeit und das sorg-
liche Suchen und Forschen
der Naturwissenschaft, das
gewissenhafte Beobachten
der Ursachen der Erschei-
nungen der Sinneswelt, der
ganze gewaltige, dürstende
Zug nach Wahrheit, der
unsere Zeit durchzieht, hat
auch die Architektur ergriffen
und beginnt hier eine Reihe
von Schöpfungen zu zei-
tigen, welche, aus den allge-
meinen Aulturverhältnissen
und demJeitkarakter heraus
geschaffen, als Vorläufer
einer bis zu einem hohen
Grade zutreffenden Aultur
gelten können. Freilich sind
es noch nicht viele künstle-
rische Aräfte, welche, unbe-
kümmert um das Urtheil
der Menge, das Selbstver-
trauen — das künstlerische
Aönnen überhaupt voraus-
gesetzt -— so weit steigern,
daß sie wiederum mit Auer-
bach's Lollaborator sagen
könnten: „Was ich zu bie-
ten habe, will nicht als all-
gemein gültige Wahrheit
erscheinen, ist aber meine
Wahrheit und mag Jeder-
mann Zusehen, was davon
auch seine Wahrheit werden
kann." Die meisten geben
sich auch heute noch zufrie-
den, wenn es heißt: „Ls
hat gefallen." „Als ob es
nichts Höheres gäbe, als
den Leuten zu gefallen",
sagte Schumann. Es trifft
sich auch nicht selten, daß
sich die größere Gemeinde
der Aünstler, die arbeitet
um zu gefallen, die Bezeich-
nung Idealisten zulegt, aber
wie Recht hat nicht auch
hier Auerbachs Lollabora-
tor, wenn er sagt: „Die so-
genannten Realisten, die
nicht Materialisten sind, ha-
ben weit mehr wahren
Idealismus als die Idea-
listen als solche oder die
Ucberschwänglichen. Sie
glauben und wissen die
Schönheit, Güte, Größe,
Tugend in der wirklichen
Welt; sie kennen und halten
sie." Solche Realisten unter
den Künstlern brauchen wir
am Schluffe unseres XIX. Jahrhunderts, damit es gleich dem Schluffe des XVIII.Jahr-
hunderts werde, eine Epoche, welche eine große neue Zeit, eine glänzende Aultur-
periode der Menschheit einleite. Dazu bedarf es aber auch der sorgsamsten Pflege
der künstlerischen Eigenart. Denn es gehört zum Aarakteristischen der inenschlichen
Natur, daß jedem einzelnen Menschen eine nur ihm angehörige Eigenthümlichkeit
einwohnt, durch deren Entwickelung er zu einem vollkommenen wird, und so und
nicht anders wiederholt sich dies in jedem Volke. In der vollendeten Ausbildung
dieser Eigenthümlichkeit liegt die sittliche und mit ihr jede andere Größe des
Menschen, wie die Volkstümlichkeit und die Nationalgröße der Völker. Sie er-
wärmt und erleuchtet die Gegenwart, wie die Zukunft, nicht nach ihrer zeitlichen
* Abbildung Nr. 27s). Nokroko-Thürs mit Amorettenmalerei.
Entworfen u. gezeichnet von Heinrich Jesora, Dresden. — Näheres vergl. Beschreibung.