Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen
— 2.1920/21
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https://doi.org/10.11588/diglit.27814#0324
DOI issue:
2. Märzheft
DOI article:Dresdner, Albert: Thorvaldsen als Zeichner
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in deren idyllischen Charakter nur die übersteigerte
Athletik der Gestalt Hektors nicht recht hineinpassen
will.
Auch da, wo Thorvaldsen der Natur selbst Aug’ in
Auge gegenübersteht, tragen seine Zeichnungen ein bürger-
liches Gepräge. Die Gruppe einer Frau mit drei Kindern
ist etwa in die Nähe von Zeichnungen wie der Schadow-
schen Kaffeevisite zu stellen. Das anmutige Blatt, das
ihn selbst auf der Spanischen Treppe zeichnend darstellt,
und die Studie nach einer römischen Villa zeigen ein
behutsames und feines Nachfühlen der Naturformen, und
ihre leise Strichführung unterscheidet sich sehr von den
festen Hieben, mit denen er in frischen plastischen Ein-
fällen die Formen der Gestalten begrenzt und bestimmt.
Zwei als Karikaturen bezeichnete Profilzeichnungen nach
W. v. Humboldt und Zoega bekunden, wie wenig Thor-
valdsen das barocke Element gegeben war, dessen die
Karikatur bedarf. Überhaupt aber überwiegen unter
seinen Zeichnungen die kompositioneilen Entwürfe bei
weitem die Studien nach der Natur, und man erkennt an
ihnen, daß Thorvaldsen mit antiken Formtypen so reich
versehen war, daß er sich für dergleichen Entwürfe stets
versorgt fand. Wo im ersten Anlaufe das Motiv origineller
gefaßt wurde, erfolgt im weiteren Verlaufe des Formungs-
prozesses doch regelmäßig, zuweilen erst allmählich, zu-
weilen sehr bald die Angleichung an die antiken Typen
und Schemata. Je weiter die Zeichnungen dieser An-
gleichung entfernt stehen, um so lebendiger wirken sie.
Sein Zeit- und Kunstgenosse Schadow hat in seinen
Zeichnungen die Menschen und Erscheinungen seiner
Umgebung mit offenem Blicke, mit naivem Lebensgefühle
und frischer Wirklichkeitsfreude, mit männlich zupackendem
Griffe festgehalten. Der schwedische Bildhauer Johann
Tobias Sergel, der ein Menschenalter vor Thorvaldsen
dem Klassizismus Bahn gebrochen hat, hat in seinen
genial-übermütigen Zeichnungen, über deren sprudelnde
Lebenslust sich zuweilen tragische Schatten breiten, eine
ganze Selbstbiographie niedergelegt. Anders ist die Welt
der Zeichnungen Thorvaldsens. Er schöpft nicht aus
dem breiten Strome des Lebens, drängt sich nicht an
Natur und Welt, verliebt sich nicht in den Reiz der
Einzelerscheinung. Fast immer sind wir bei ihm im
Atelier. Wir sehen ihn weit mehr beim Ausgeben als
beim Einnehmen, unerschöpflich in der Ausnutzung seines
einmal in Sicherheit gebrachten Formenvorrats. Aber
wir erfreuen uns auch am frischen Flusse seiner künst-
lerischen Kraft, bevor sie sich im stillen Ozeane der
antiken Form (wie er sie sah) beruhigt.
Dürer,
Die Jungfrau erscheint dem Johannes.
Titel zur Apokalypse.
B. 60
Auktion
bei
C. G. Boerner, Leipzig
316
Athletik der Gestalt Hektors nicht recht hineinpassen
will.
Auch da, wo Thorvaldsen der Natur selbst Aug’ in
Auge gegenübersteht, tragen seine Zeichnungen ein bürger-
liches Gepräge. Die Gruppe einer Frau mit drei Kindern
ist etwa in die Nähe von Zeichnungen wie der Schadow-
schen Kaffeevisite zu stellen. Das anmutige Blatt, das
ihn selbst auf der Spanischen Treppe zeichnend darstellt,
und die Studie nach einer römischen Villa zeigen ein
behutsames und feines Nachfühlen der Naturformen, und
ihre leise Strichführung unterscheidet sich sehr von den
festen Hieben, mit denen er in frischen plastischen Ein-
fällen die Formen der Gestalten begrenzt und bestimmt.
Zwei als Karikaturen bezeichnete Profilzeichnungen nach
W. v. Humboldt und Zoega bekunden, wie wenig Thor-
valdsen das barocke Element gegeben war, dessen die
Karikatur bedarf. Überhaupt aber überwiegen unter
seinen Zeichnungen die kompositioneilen Entwürfe bei
weitem die Studien nach der Natur, und man erkennt an
ihnen, daß Thorvaldsen mit antiken Formtypen so reich
versehen war, daß er sich für dergleichen Entwürfe stets
versorgt fand. Wo im ersten Anlaufe das Motiv origineller
gefaßt wurde, erfolgt im weiteren Verlaufe des Formungs-
prozesses doch regelmäßig, zuweilen erst allmählich, zu-
weilen sehr bald die Angleichung an die antiken Typen
und Schemata. Je weiter die Zeichnungen dieser An-
gleichung entfernt stehen, um so lebendiger wirken sie.
Sein Zeit- und Kunstgenosse Schadow hat in seinen
Zeichnungen die Menschen und Erscheinungen seiner
Umgebung mit offenem Blicke, mit naivem Lebensgefühle
und frischer Wirklichkeitsfreude, mit männlich zupackendem
Griffe festgehalten. Der schwedische Bildhauer Johann
Tobias Sergel, der ein Menschenalter vor Thorvaldsen
dem Klassizismus Bahn gebrochen hat, hat in seinen
genial-übermütigen Zeichnungen, über deren sprudelnde
Lebenslust sich zuweilen tragische Schatten breiten, eine
ganze Selbstbiographie niedergelegt. Anders ist die Welt
der Zeichnungen Thorvaldsens. Er schöpft nicht aus
dem breiten Strome des Lebens, drängt sich nicht an
Natur und Welt, verliebt sich nicht in den Reiz der
Einzelerscheinung. Fast immer sind wir bei ihm im
Atelier. Wir sehen ihn weit mehr beim Ausgeben als
beim Einnehmen, unerschöpflich in der Ausnutzung seines
einmal in Sicherheit gebrachten Formenvorrats. Aber
wir erfreuen uns auch am frischen Flusse seiner künst-
lerischen Kraft, bevor sie sich im stillen Ozeane der
antiken Form (wie er sie sah) beruhigt.
Dürer,
Die Jungfrau erscheint dem Johannes.
Titel zur Apokalypse.
B. 60
Auktion
bei
C. G. Boerner, Leipzig
316