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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 2.1920/​21

DOI Heft:
1./2. Juniheft
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Schweinfurth, Philipp: Der russische Graphiker Masiutin
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https://doi.org/10.11588/diglit.27814#0410

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Masiutin, Der Stolz

lebens nach Gebühr anerkannten und als hohe nationale
Kunstwerle eingeschätzten graphischen Schöpfungen Ma-
siutins stellen zugleich in der Fülle ihres allgemeinen
küntlerischen Wertes eine der bedeutendsten Leistungen der
europäischen Graphik der letzten zehn Jahre dar. Dem
Verfasser dieser Zeilen würde daher eine für ihn sehr
ehrenvolle Aufgabe zufallen, wenn seine Bemühung, die
Kunstfreunde und Sammler des Westens mit dem Schaffen
dieses größten zeitgenössischen russischen Graphikers
bekannt zu machen, von Erfolg begleitet sein sollte.
Eine solche Erkenntnis der künstlerischen Persönlichkeit
Masiutins dürfte vielleicht am besten durch einige Be-
merkungen in Bezug auf die russischen Dinge im allge-
meinen angebahnt werden.

Es läßt sich heute mit Sicherheit Voraussagen, das
die russische Kunst als solche während der nächsten
Jahrzehnte im Vordergrund der kunstgeschichtlichen so-
wie der Sammler- und Museumsinteressen stehen
wird.

Die alten Heiligenbilder, die Ikonen sind uns durch
Gauguin und Matisse nahegebracht, von welchen letzteren
Meistern übrigens in sehr bezeichnender Weise der Mos-
kauer Sammler Schtschükin kurz vor dem Kriege die
schönste Kollektion zusammengebracht hat, die irgendwo
in Europa zu sehen ist. Die altrussische Architektur weist
einen höchst interessanten uralten Holzbau auf und eine
Fülle überraschender Steinformen. Das russische Barock,
eine brutale Pracht, roh und vollendet zugleich, wird von
einer glänzenden, in ihrer Art einzigen Entwickelung des
Klassizismus gefolgt, die sich in Petersburg im Jahrhun-
dert der russischen Vormachtstellung in Europa von
1750—1850 vollzog. Dieselbe mächtige Zeit brachte ein
blendendes Kunstgewerbe hervor, „notre luxe fabuleux“,
das die westlichen Vorbilder ins Orientalisch-Schwelge-
rische steigerte.

Neben diesem Luxus steht die Bauernkunst, voll
altnationaler Tradition, von ungewöhnlicher Eindring-
lichkeit der Farbe, Sicherheit des Musters und Fülle des
Materials.

Dann folgt das XIX. Jahrhundert mit großen
Erscheinungen und schließlich das wogende Chaos der
Zeitgenossen, von denen die besten den alten Ikonen
erstaunlich verwandt sind.

Fürs erste sind alle diese Dinge allerdings fast nur
innerhalb der Grenzen Rußlands bekannt und in russi-
scher Sprache beschrieben. Doch kann der Tag nicht
mehr fern sein, wo Liebhaber, Sammler und Kenner,
Aesthetiker und Historiker, die vollzähligen Vertreter aller
jener fünf Grundkategorien, in welche Friedländer die
Kunstfreunde der westlichen Welt eingeteilt hat, sich
Rußland zuwenden werden. Auf den Gebieten der
Architektur, der Malerei und des Kunstgewerbes ist ihnen
eine reiche Beute gewiß, zumal jetzt, wo die kirchliche
Kunst eigentlich erst beginnt, zugänglich zu werden.
Weit weniger günstig liegen die Dinge indeß im Gebiete
der Skulptur und vor allem der uns hier besonders inte-
ressierenden Graphik. Die Graphik ist für Rußland ein
Kunstzweig, der jeder tieferen nationalen Tradition ent-
behrt. Zur Zeit ihres Aufkommens und ihrer letzten
großen Blüte im Westen sind die russischen Künstler in
Bezug auf die in der Graphik liegenden Möglichkeiten
ahnungslos gewesen. Der Kupferstich beginnt in Ruß-
land eigentlich erst nach Peter, und erst in der zweiten
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts kamen nennenswerte
Meister nach Petersburg, so Georg Friedrich Schmidt
und James Walker, die dort eine Schule des Porträtstiches
begründeten. In westeuropäischen Sammlungen dürfte
aus dieser Zeit vielleicht Skorodümoff vertreten sein,
der in London unter Bartolozzi gearbeitet hat; dann der
Kalmüke Fedor, den ein seltsames Schicksal aus der
südrussischen Steppe an die Karlsruher Akademie wir-
belte und der als Zeichner Lord Eigin auf die Akropolis
begleitet hat. Fedor hat ein kräftiges Selbstporträt ge-
ätzt, doch wendete sich das Interesse der russischen
Künstler erst 70 Jahre später mit einigem Ernst der Ra-
dierung zu, als in Petersburg eine Gesellschaft der Aqua-
fortisten „entstand, deren Arbeiten etwa“ an Messonier
oder Fortuny erinnern, ohne indess diese Vorbilder zu
erreichen. Damals schuf Schischkin, „unser König der
Wälder“, wie ihn Rovinski, der hochverdiente Historiker
des russischen Kupferstiches nennt, seine ebenso schönen
wie technisch naiven Radierungen. —

Die Petersburger „Aquafortisten“ hatten mit der
Mehrzahl der im XIX. Jahrhundert neben ihrer Malerei auch
die Graphik pflegenden Künstlern den Irrtum gemeinsam,
daß für sie die Radierung nur eine Abart der Federzeich-
nung war. Das Wesen der Sache blieb ihnen verborgen.
Ein solcher Irrtum ist für das XIX. Jahrhundert bezeich-
nend. Wir blicken heute die Dinge wieder anders an,
aus einer anderen Geistesverfassung heraus. Malerei
ist immer Bejahung, Verherrlichung des schönen Scheines
der äußeren Welt. Nur wenige vereinzelte große Schöpfer
haben der Malerei die Last des Dämonisch-Innerlichen
aufzuzwängen verstanden. Vielleicht gelingt dies auch

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