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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 2.1920/​21

DOI Heft:
1./2. Juniheft
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Schweinfurth, Philipp: Der russische Graphiker Masiutin
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https://doi.org/10.11588/diglit.27814#0411

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Jemandem in der Gegenwart — gemeinhin sind indeß
alle, die sich expressionistisch gebärden wollten, vom
Teufel beim Kragen gepackt: sie wirkten schließlich de-
korativ. Die Zinken und Zacken der Moskauer Supre-
matisten sind im Laufe von zwei Jahren aus Weltsymbolen
zu farbigen Seidenstickereien auf Damentaschen avan-
ciert. Die Futuristen sind bestenfalls Tapeten für Leute,
deren Nerven stark genug sind.

Aber da, wo die Grenzen der Malerei beginnen, er-
öffnet sich das Feld der Graphik. Die ungeheure Intensi-
tät ihrer Linien, ihre blitzenden Lichte und tückisch-dunk-
len Schatten schließen das mysterium magnum ein. Wenn
man Goya’s Caprichos durchgeht, oder die Desastres,
ist man im Innersten erschüttert, hier wird mit dem
Schicksal gerungen. Goya will keine Federzeichnung,
er will ein Weltbild geben, das veranlaßt ihn, zu radieren.
Dieser große Geist ist sich seines Dranges voll bewußt;
es kann aber auch Einer instinktiv dahin gelangen und
seine mächtige Symphonie in schwarz und weiß an zu-
fälligen Motiven entwickeln, so Edelinck. Edelinck wird
mit Recht von Deleborde als ein echter Graphiker cha-
rakterisiert, „un graveur dans le plus stricte acception
du mot, un homme dout le talent a pour moyen d’expression
uniqne et n£cessaire non le crayon le pinceau, mais le
burin“. Ein Mann, der das, was er darstellen will,
nicht mit dem Stift oder dem Pinsel, sondern einzig mit
dem Grabstichel, mit der Radiernadel sichtbar machen
kann — von diesem und keinem anderen Eindruck ist
man erfüllt, wenn man die Blätter Masiutins durchgeht.
Das Hauptkennzeichen der Radierungen Masiutins ist
ihre Notwendigkeit. Auch von denjenigen Blättern, die
nicht unmittelbar zu einem sprechen, fühlt man, daß sie
notwendig sind, denn sie führen organisch zu den großen
Tatsachen dieser Kunst hinüber. Ueberall ein zielstre-
biger Ernst, überall Gestaltgewinnung einer unaufhörlich
bewegten Fülle produktiver innerer Anschauungen.
Diese Gestaltgewinnung ist nicht von vornherein vorhan-
den. Sie setzt sich langsam durch, zuerst auf mannig-
fachen Umwegen, wo man nicht selten durch öde Strecken
vom Ziel abgetrennt bleibt — dann wird eine Menge
beiseite geschoben und der einfache Weg liegt auf einmal
überraschend da. Das gilt für die Darstellung so gut
wie für die Technik. Der Künstler arbeitet in seiner
frühen und mittleren Periode viel mit verschiedenen
Aquatintaverfahren, wobei sich manche schöne Blätter
ergeben, vieles jedoch durch noch allzureichliche Kalt-
nadelarbeit den Charakter des peinlich-Mühsamen erhält.
Eine Reihe von Platten dieser Frühzeit, darunter solche,
von denen er es zweifellos nachträglich bedauern muß,
sind vom Künstler zerstört worden, als er zu breiterer
und freierer Technik überging. Unter den Werken der
reifen Zeit sind reine Ätzungen zahlreich, an denen man
die Meisterschaft des Striches bewundert, der teils die
Fläche durchwühlend und tief aufackernd unvermittelt auf
weißem Grunde steht, teils mit großem Schönheitsgefühl
in feinen, dicht nebeneinander liegenden Schraffierungen
aufliegt.

Die reproduzierten Blätter „Wahl des Geschenks“
und „Zwei und Fünf“, letzteres prachtvoll kupfermäßig,

Masiutin, Der junge Bonze

können hier als Beispiele dienen. In reiner Kaltnadel-
arbeit ist nur weniges geschaffen worden, darunter ein
paar ganz meisterhafte Blätter. Masiutin hat in letzter
Zeit mit Erfolg auch Lithographien und Holzschnitte ver-
sucht, wobei er sich einen breit angelegten dekorativen
Expressionismus für diese Techniken erfunden hat. Von
seinen Illustrationen sind neuerdings solche zu Gogol
bei Hoffmann in Stuttgart erschienen.

Die Blätter aus der früheren Zeit Masiutins fallen
durch phantastische Bildungen auf. Sie sind voller Un-
geheuer. So die Darstellung der Todsünden, die den
Künstler wiederholt gereizt hat. Das Untermenschliche
wird hier herausgeholt, jenes Triebleben, das sich in der
Menschheit aus ihrer tierischen Wesenheit heraus mit
elementarer Gewalt vollzieht. Kein Intellekt kann diesen
Urdrang kontrollieren, dessen Zuckungen und Krämpfe
an der Oberfläche des Bewußtseins als Lust, Lüge, Geiz,
Hoffahrt, Gier, Trägheit und Verzweifelung empfunden
werden. Zunächst glaubte der Künstler diese über-
greifenden dunklen Gewalten durch Ungeheuer zu ver-
sinnlichen, Ungeheuer, die mit grauenhafter Gebärde in
das Leben der Sterblichen zerstörend eingreifen. Erst
später hat er dann erkannt, daß einfache Vorgänge des
Lebens selbst, ohne daß Hinzutun von Teufeln genug an
Symbolen des Fürchterlichen einschließen. So entstand
1918 die zweite große Serie der Todsünden, wo das
dämonische Symbol in alltäglichen Vorgängen enthalten ist.
Die Blätter dieser Serie sind meisterhaft beherrscht, und
tragen alle Kennzeichen der Reife an sich. —

Zum Schönsten unter den Frühwerken Masiutins
gehört „Das Leben“, ein Blatt dessen fascinierende
Wirkung die noch mühsam sich vollziehende Technik

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