W. 61.
Donnerstag den 27. Mai
1869.
W Heidelberg, 26. Mai. Es ist wahrhaft ergötzlich die
Verlegenheit, die Angst, die Wuth der armen niederträchtigen
Menschen zu beobachten, die das Ende des bisherigen Regimentes,
von dem sie zehren, herannahen sehen. Seitdem die Katholiken,
die große Mehrheit der Bewohner des Landes, nach langem Schlafe
der Unterdrückung sich erhoben haben und wie aus einem Munde
ihr Recht fordern, beschleicht Alle das Gefühl, daß keine Gewalt
im Stande sein wird, sie länger nieberzuhalten. Das drückt die armen
Knechte der Regierungspresse und die feigen Lügen, die uns jeden
Tag in der Heidelberger Zeitung geboten werden, sind nichts als
Ausflüsse dieser Thränenquelle. Man sehe nur die heutige Nummer!
Im Eingang führt sie uns ein schauerliches Nachtstück der
Inquisition vor. Unmittelbar darauf läßt sie die bösen Jesuiten
in Schaaren aufmarschrren, deren Verschwörung im nächsten Con-
cil die Freiheit der Welt bedrohe. Dann müssen kathol. Priester
dem „Dicrator" Lindau den Krieg erklären und ihm, obgleich
Gespenster keine Stimme haben, zuschreie».: halt, bis hierher!
Zuletzt, nachdem noch über die „Preußenfresserei" in Wiesloch
bitter gejammert worden war, wird über die Versammlung der
kath. Volkspartei in Engen gelogen, daß jetzt noch das Gebälke
des Saales brechen könnte!
Diese Andeutungen werden zur Erheiterung unserer Lessr ge-
nügen, einer Widerlegung bedarf es nicht: es sind badische Staub-
wolken , hinter welchen sich der Rückzug verbirgt.
Katholische Volkspartei.
Weitere Adressen an S. Kgl. Hoheit den Großherzog mit der
dringenden Ditte um Kammeraufl ösun g sind abgegangen:
Von Sn Leon von
111
Staatsbürgern *),
„ Ziegelhausen
102
„ Sickiugen
52
„ Neckarhausen
136
„ Edingen
87
„ Di ls berg
81
„ Mückenloch
21
„ Dielheim
212
„ Baierthal
58
„ Unterhof
16
„ Oberhof
23
„ Ober-, Mittel- u. i
„ Unterschefflenz
„ Sandhaufen
53
„ Hemsbach
83
„ Sulzbach
67
„ Laudenbach
175
„ Mauer
82
„ Götzingen
127
„ Rinschheim
53
Uebertrag von letzter Nummer
2364
Uebcrtrag:
3945 Staatsbürger.
*) Die Zahl der von St. Leon angegebenen Unterschriften war in der vor-
letzten Nummer nur mit 106 statt 217 verzeichnet, daher nachtr. diese 111,
Die Versammlung in Engen.
Es war die Absicht der National-Servilen, die Versammlung
der katholischen Volkspart-i in Engen unter allen Umstän-
den d. h. nach dem Grundsatz: „Der Zweck heiligt die Mittel"
zum Scheitern §u bringen. Zu diesem Zweck erschien ein „Auf-
gebot an alle liberalen Männer im Seekreis und in der Baar"
(als ob die Baar ruckr auch zum Scekrcis gehöre!) in der Con-
stanzer Zeitung und einigen noch „intelligenteren" Käseblättchen,
in werchem aus die infamste und dümmste Weise die Bestrebungen
der eathol. Volkspartei verdächtigt wurden und ein zweites Radols-
Misiren m Aussicht gestellt war. Ja, Herr Ammon war sogar
fo unverschämt, m oer Lonntagsnummer seines Blattes den Satz
veizufügen: die Ultramontanen haben Angst, — Herr Ammon
selbst glich eben dem Wanderer, der bei nächtlichem Gang durch
den Wald durch lautes Druuflossingen sich selbst Muty und Tapfer-
keit zufprechm wollte. Die UltramvnUnen hatten aber keine
Angst, sondern erschienen in großen Schaaren von allen Setten
M dem Städtchen Engen, so daß um 12'/- Mr, schon das ganze
geräumige Gasthaus zum Lamm mit Männern angefüllt war. Die
Versammlung war auf 3^ Uhr ausgeschrieben, indessen war die
Hitze in dem niederen Saale so groß, daß es eine Unmöglichkeit
gewesen wäre, bis zur anberaumten Stunde die Versammlung
schwitzen zu lassen, und so entschloß man sich rasch, die Verhand-
lungen sofort in Angriff zu nehmen. Inzwischen waren auch die
Servilen in der Post angelangt, die sich geschmeichelt hatten, vor
uns in Engen einzutreffen, um unseren Saal für sich in Beschlag
nehmen zu können, so daß wir dann das Nachsehen gehabt hätten.
Sie hatten zu dem Zweck ein vertrauliches Circular an ihre Par-
teigenossen überallhin entsendet, das aber auch in unsere Hände
gekommen war und es uns so ermöglichte, diesem schoflen Manö-
ver entgegenzuwirken. Immerhin war in den Nebenzimmern eine
nicht unbeträchtliche Zahl jener Leute vor Beginn unserer Ver-
handlungen versammelt, während die Masse derselben, unser frühes
E,scheinen nicht ahnend, sich als wackere Zecher in der gesinnungs-
verwandten Post erwies.
Die Versammlung begann. Als Präsident wurde der Abge-
ordnete Lindau durch Acclamation ausgerufen, zu Vicepräsiden-
ten bestimmte dieser Frhrn. v. Hornstein und Gemeinderath
Fischer von Engen. Nach einer kurzen Begrüßung der Ver-
sammlung durch Stadtpfarrer Kärcher betrat Lindau die
Rednerbühne und entwickelte in längerem Vorträge das kirchliche
Programm der kath. Volkspartei, wobei er häufig von stürmi-
schen Bravos unterbrochen wurde. Ihm folgte Frhr. v. An li-
la w, der die Angriffe und Vorwürfe der Gegner, namentlich der
Constanzer „Intelligenzen" mit Schärfe zurückwies und den leb-
haftesten Beifall erudtete. Herr Dr. Hansjakob schilderte da-
rauf in gediegener Rede die ganze Hohlheit des vulgären Libera-
lismus und Frhr. v. Stotz in gen wies an der Hand statistischer
Belege die Fehler des jetzigen Regimes aufs Klarste nach, wobei
besonders seine trefflichen Bemerkungen über die Weinaccise sich
der allgemeinsten Zustimmung erfreuten. Herr Dr. Bissing zeich-
nete in längerem Vortrag die allgemeine politische Lage und
unterwarf darauf in Beziehung auf diese die Jolly'sche Staatsver-
waltung einer unbarmherzigen Kritik. „Wenn es heiße: Wehe dem
Volke, dessen König ein Kind ist, so rufe er dagegen: Dreimal Wehe,
wenn der Ministerein Professor ist", — so endete Redner unter rau-
schendem Beifallssturm seinen Vortrag. Hr. Verwalter Hug erwarb
sich durch eine vortreffliche Rede über unsere Beschwerden in kirch-
licher wie politischer Beziehung reichen Beifall der Versammlung,
wie auch Herr Dr. Sch ach leit er durch feurige Beredsamkeit.
Herr Gürtler Würth von Constanz war der letzte eingezeichnete
Redner und erregte einen Sturm von Heiterkeit durch die witzige
und geistvolle Art und Weife, wie er die Constanzer Stromeyerei
verhöhnte und insbesondere den Unsinn der Constanzer Zeitung
dem Gelächter preisgab. Der Vorsitzende Lindau resümirte da-
rauf den Gang der Verhandlung und sprach dann noch warme
Worte zum Beitritt und zum unverbrüchlichen Festhalten an dem
Programm der kath. Volkspartei, worauf die Verhandlungen ge-
schlossen wurden. Schließlich wurde noch ein Hoch aus die Reoner
ausgebracht.
Die ganze Versammlung war von dem besten Geiste beseelt
und zeichnete sich durch musterhafte Ordnung, die einem Parlament
zur Ehre gereichen könnte, aus, wie dies stets bei unseren Ver-
sammlungen der Fall zu sein pflegt. Inzwischen spielte eine andere
Scene drunten auf der Straße, die die Kehrseite parlamentarischen
Lebens zum Besten gab. Die Servilen hatten beschlossen — es
gelte was es wolle — unsere Versammlung zu sprengen. Als
nämlich die m den Nebenzimmern des Gasthauses anwesenden
Leute dieser Partei sahen, welch' würdigen Verlaus unsere Ver-
sammlung nehme und als sie fühlten, daß sie in der Discussion
unseren Rednern nicht cntfirm gewachsen w-ren, griffen sic zu
dem perfioesten, bubenhaftesten Mittel, das den Zweck heiligen
sollte, — sie ließen nämlich Einige aus ihrer Mute in den Saal
Hineinrusen: „Rette sich wer kann, die Menschenmenge rft so groß,
daß der Boden schon weiche und die Wände über uns zusammen-
stürzen!" Daraus warfen sie Tische, Bänke und Gläser um und
drängten in fieberhafter Hau nach dem Ausgang, in der Hoffnung,
die Unsrchen nachzuzrehen und so auf oie einfachste Weife von der
Welt ser Versammlung em Ende zu machen. Ade. Bangemachen
girr nicht, und tue Uttramontamn haben keine Augst,