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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 10./​11.1928/​29

DOI Heft:
1./2. Septemberheft
DOI Artikel:
Bogeng, Gustav A. E.: Betrachtungen aus der Bibliophilenperspektive, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.25877#0022

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er wM sie fertig machen. Wie er meint, bis zu seiner
wunschlosen Zufriedenhe'it. A'ber er kann ihren Aufbau
nicht mit einer nur bibiiographisch eingegrenzten Aus-
gabenauswahl anfangen, sein Ausgangspunkt muß not-
wendigerweise der einer Auswahl von Werken sein,
die er sich irgendwie beschränkt auf das, was man
generell die Meisterwerke des Weltschrifttums zu
nennen pflegt. Nach deren Kanon, der nationalen und
internationalen Klassikergeitung, der Bibliophile seine
Auslese individualisiert, indem er von den jeweiligen
Hauptwerken, den Spitzenleistungen, hinuntersteigt, um
an irgendweichen Höhepunkten über den Niederungen
Halt zu machen. Dabei ist die Abhängigkeit des indi-
viduellen Urteils über die literarischen Werte von den
Koilektivwertungen unvermeidlich. Bereits die Ein-
schätzung der Bildungsgiiter durch die Erziehung er-
zwingt einen Historizismus. Eine andere als diese erste
historische Orientierung ist jedoch unmöglich, weil, mit
dem weiterlebenden Büchersaminler seine Zeitgenossen,
wie er selbst, mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart
geschichtlich werden. Auch die modernste Sammlung
besteht, da sie Dauer haben soll, aus durch sie histori-
sierten Objekten. Allein aiuf ihrer geschichtiichen Auf-
fassung kann sich eine Sammlung gründen. Damit wird
von vornherein auch der Bibliophile zum Literar-
historiker, der Bücherkunde, Schrifttumskunde, Sprach-
wissenschaften treibt, ob er nun diese historische
Orientierung, deren Ausmaß sehr verschieden sein kann,
zugibt oder nicht. Als Gegenbeispiel pflegen sich gern
die Künstler zu nennen, die 'siich „das Schöne“ aneignen,
gleichviel, von wem und woher es stammt. Die gern
ihr absolutes Qualitätsgefühi mit dem relativen
Qualitätsgefühl des nur geiehrten Kunstsammlers ver-
gleichen, wo'bei sie dann vergessen, daß sie sich allein
das assimilieren, was ihrer Wesenheit entspricht, daß
sie historisch intuitiv verfahren, während der Sammler
historisch methodisch verfährt. Ein Unterschied, der
letzten Endes nicht älizugroß ist. Alle Antworten, die
man den Fragen sucht, welche denn die Meisterwerke
des Weltschrifttums sind, die besten Bücher alier Zeiten
und Zonen, werden von vornherein die Wissenschaft
von der Dichtung und Wortkunst scheiden. Für diese
kann die romantische Auffassung einer Universalpoesie
ausreichen. Für jene bleibt nur die Goethesche
Betrachtungsweise der Weltliteratur als ein soziales
Phänomen, die der „literarischen Produktivität“ eines
Werkes, seiner literarischen Auswirkungen, we'lche blei-
bend s'ich wandeln. Dabei kann dann ein einst epoche-
machendes Werk durch seine Gedanken noch weiter-
leben, indessen es in seiner überalterten Urform schon
vergessen, als Buchform nur noch e'ine historische Ur-
kunde ist. Allein in Ausnahmefällen wird hier der formale
literarische Eigenwert, insbesondere der fachwissen-
schaftlichen Bücher, ein so hoher sein, daß sie der Ge-
staltung ihres Gedankengehaites wegen nocli gelesen
werden. Bleibend originäl erscheint die Poesie als eine
unmittelbare und nur lediglich durch ihre Urwerke ver-
mitteibare Wortkunst. Man kann sich eine Dichtung nur
so aneignen, wie sie als eine Kunstschöpfung besteht.
Eine Darstellung von Kants Lehrmeinungen kann inimer-

hin noch über sein philosophisches System aus zweiter
Hand unterrichten. Den Homer muß man im Urtexte
lesen. Hier verengert sich die Auswahi der Dichtungen
aller Völker, die in seiner Schatzkammer zu vereinen
den Bibliophilen locken wird, der eine innere Ge-
schlossenheit, eine Vollständigkeit der ihm vorhandenen
besten Werke erreichen wil'l. Der Sprachenkundigste
kann die Übersetzung, die unzureichende Übermitt-
iung, nicht entbehren. Und niemand kann sich die jetzt
unbekannten, verlorenen Originaiwerke verschaffen.
Auch das verengert die Auswahl der Meisterwerke der
Dichtung, die nach dem Urteii ihrer Zeit für die besten
galten. Eine historische Wertung, die anerkannt wird,
obschon man nicht mehr weiß, worauf sie sich bezieht.
Der Büchersammler pflegt da gewöhnlich nur an die
seltene Ausgabe zu denken. Es ist äber doch so, daß
in weiten Bereichen des Weltschrifttums seine Meister-
werke in ihrer originalen Form unbekannt sind. Das gilt
keineswegs nur für die antiken oder die orientalischen
Literaturen, sondern auch für unsere modernen.
Shakespeares Werke etwa, die die Bücherbretter in
ihren Standard Editions zieren, sind vielfach nicht
Shakespeares Werke. Das echte und das unechte in
ihnen zu unterscheiden, gdiingt kaum einer sehr ver-
feinerten Philologie. Allerdings ist hier — auch dafür
ist das Beispiel Shakespeare bezeichnend — die Ueber-
setzung in einem Vorteil. Der Originaltext veraltet in
seinem Spruchgewande, die Uebertragung in eine an-
dere Sprache belebt ihn von neuem, macht ihn blut-
frischer gegenwartsnäher. (Beide Behauptungen mag
man an der neuen Shakespeare -Übersetzung
nachprüfen, die eben Hans Rothe im Paul
List-Verlag, Leipzig, veröffentlicht.) An-
dererseits gelingen Höchstleistungen der Über-
setzungskunst für sprachiich altertümliche Werke nur,
wenn sie s'ich auf eine archaisierende Wortkunst grün-
den. Alle diese Andeutungen der Unvolikommenheit
einer jeden Bücherauswahl, die zu einer Volständigkeit
mit der ausschiießiichen Aufnahme von Originaiwerken
hinführen soll, beweisen, daß nur Annäherungen an eine
derartige Vollständigkeiit möglich sind. Damit kommen
dann aber Anthologien und Literaturgeschichten als die
einer jeden Bibliothek unentbehriichen Grundwerke zu
den ihr meist von den Bibliopbilen versagten Ehren.
Gerade Anthologien und Literaturgeschichten bestim-
men nach außen, gegen die gewaltigen Büchermassen,
und nacli innen, für die Ausdehnung der eigentiichen
Bücherlese, die Grenzen. Die Aufschichtungen der
Büchermassen einer Nationaliteratur mit ihren geistigen
Strebungen sind einer geologischen Wand zu verglei-
chen. Wer, auch nur in Ausschnitten einzeiner Zeit-
räume, „Deutsche Dichtung“ sammelt, muß diese
Sammlung, die nur an einzelnen Stellen ausgebaut wird,
so umgrenzen, daß sie eine Ansicht der Gesamtentwick-
lung in richtigen Verhättnissen zeigt. Daß die vielen
Klassiker- und Romantiker-Koiiektionen wie bibllo-
giapbische Raritäten-Kabinette erscheinen und immer
mehr aus der Mode kommen, weii sie den Sammler nicht
befriedigen können, liegt nicht zum wenigsten an der
Disharmonie, in der sie sich ohne eine geschlossene

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