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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 10./​11.1928/​29

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1./2. Oktoberheft
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Schuster, Julius: Goethe als anatomischer Zeichner
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https://doi.org/10.11588/diglit.25877#0064

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lulius Scbuftet?

Dr. Julius Schuster ist den Leserkreisen des
„Kunstwanderers“ kein Unbekannter. Er gehört zu den
besten Kennern der naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes und hat zahlreiche Punde gemacht, die unser
Wissen vom Wesen Goethes bereichern konnten. Kiirz-
iich glückte dern Forscher die Entdeckung der ältesten
Farbentafel Goethes, der Grundlage zu seiner Farben-
lehre. Im folgenden spricht sich Schuster zum erstenmal
iiber den Anatomen Goethc aus.*)

„Zerlegen laßt ihn uns, ein Malil fiir Götter . . .“

A natomische Zeiohnungen von Goethe sind bis jetzt
der Oeffentlichkeit nur in Gestalt der fünf Tafeln
bekannt, die zur Abhandlung über den Zwischen-
knochen gehören und in den meisten Ausgaben enthal-
ten sind. Sie gehen zurück auf die Lithographien im
XV. Bande der Verhandlungen der K'aiserlic'h Leopol-
dinisch-Karotinischen Akademie der Naturforscher 1831,
in denen der zuerst in Goethes Morphologie 1820 er-
schienene 'kext wieder abgedruckt und zum ersten
Male mit den dazugehörigen Tafeln verbunden wurde.
Diese Schädelzeichnungen sind aber nicht von Goethes
eigener Hand. sondern unter seiner Leitung hergestellt,
und zwar nicht, wie bisher angegeben wurde, von van
de Velden in München, der sae nur auf den Stein iiber-
trug, sondern von dem Zeichner Waitz, der 1788 bis zu
seinem Tode 1796 Lehrer am Freien Kunst-Institut zu
Weimar war. Von e'inigen dieser Zeichnungen, wie
z. B. vom Elephanten, Walroß, Menschen, hatte Goethe
durch den Zeichner Joh. Heinr. Lips (1758—1817)
Kupfer stechen lassen, von denen Abdrucke im Goethe-
National-Museum noch vorhanden sind. Der Tod von
Waitz, den Goethe für dies'e Arbeiten besonders
schätzte, und der Wegzug von Lips 1820, der Wider-
spruch der Fachwissenschaft und die Schwierigkeiten
einer sachgemäßen Herausgabe der Tafeln im Buch-
handel, hatten die Vollendung des Ganzen gestört. Aber
au-ch die Vorlagen zu den 1831 erschierienen Zwischen-
Knochen-Tafelu waren nicht diejenigen der ersten
Fassung, die ja bis 1784 zurückgeht und Goethes erste

naturwissenschaftliche Arbelit darstellt.

*

Die Existenz des Zwischenknochens bei dem Men-
schen war Ende des 18. Jahrhunderts sehr umstritten.
Goethe hat ihn nicht entdeckt, soridern sein Vorhanden-
sein, wenn auch in gewissermaßen rudimentärer, nur
entwiicklungsgeschichtliich an sehr jungen Schädeln er-
kennbarer Form abgebildet und auch theoretisch als
logisches Postulat erwiesen auf Grund der Erkenntnis

*) Vom gleichen Verfasser erschienen: Goethes Metamorphose
der Pflanze, init dcm neu aufgefundenen Bildwerk, Berlin, W. Junk,
1922; Goethes Beiträge zur Optik, mit der bisher verschollenen
großen Farbentafel, Berlin, W. Junk, 1928; Goethes Naturwissen-
schaftliche Schriften, mit zahlreichen bisher unbekarinten Original-
abbildungen, 2 Bände, Hamburg, Gutenberg-Verlag, 1928.

cier Einheit des Plans oder Typus im Bau der höheren
Tiere und der örtlichen Uebereinstimmung der Teile
in deren Bauplan. Goethe hat damit den Grund zur
vergleichenden Anatomie, die damals nur als Veterinär-
wissenschaft einzelner Tiere ohne Vergleich unter sich
und mit dem Menschen existierte, ebenso gelegt wie zu
der Wissenschaft von der Form, deren später von ihm
geschaffene Bezeichnung Morphologie zum festen Be-
standteil in den Natur- und Geisteswissenschaften ge-
worden ist. Es war begreiflich, daß Goethe seine bio-
logische Denkweise — denn um eine solche handelt es
s'ich bei der anatomischen Abhandlung, nicht um den
einzelnen Zwischenknochen — zur Anerkennung brin-
gen wollte. Nun war der Holländer Peter Camper nicht
nur der angesehendste osteologische Anatom der Zeit.
sondern auch der Hauptverfechter der Ansicht, der
Unterschied zwischen Affe und Mensch bestehe darin,
daß jenem ein Zwischenknochen der oberen Kinnlade
zugeteilt sei, diesem aber fehle. So kam Goethe auf die
Idee, das Manuskript durch seinen Ereund Johann Hein-
rioh Merck, der als Erforscher der ausgestorbenen
Elephanten in lebhaftem Briefwechsel mit Camper
stand, an diesen zu senden, und zwar zugleich in latei-
nischer Uebersetzung und mit neun Tafeln 'in Großquart.
Die Ablehnung, die Goethes naturwissenschaftlicher
Erstling von Camper erfuhr, ist zwar höflich, aber fast
äuf ganzer Linie. Camper antwortete in den noch er-
haltenen, aber 'leider durch den Autographenhandel zer-
streuten Briefen an Merck, er könne bei Neugeborenen
keinen Zwischenknochen, wie Goethe ihn abgebildet,
finden, tadelte das Latein und die Zeichnungen und er-
klärte, der Gegenstaud sei für die Wissenschaft zu
uninteressant, als daß jemand sich fände, d'ie teuren
Tafeln zu drueken: „L’os intermiaxillaire r’existe pas
dans rhomme“ — aber für das Walroß ließ er Goethes
rauhen Nachweis des Zwischenknochens gelten (Leu-
wardeti, 21. März 1786). Campers Sohn Adrien sprach
offenbar nur die unverhüllte Meinung seines Vaters aus,
als er an diesen schrieb (Paris, 17. Oktober 1785),
Goethes Eigenschaften in der Anatomie seien „inedioe-
res“ und er würde besser tun, sicli damit nicht zu be-
fassen. Dem dynamischen Prinzip des Gestaltwandels
des gleichen Organs in der Reiihe des Organischen, das
Camper in Goethes Schrift wohl erkannt hatte, stand er
völlig verständnislos gegeniiber, weil er sich auf die
Spielerei, jedes beWebige Tier mit wenigen Strichen in
ein anderes oder in einen Menschen zu verwandeln, so
viel eiinbildete, daß er allen Ernstes glaubte, damit eine
Illustration zu dem von Herder in seinen „Ideen“ aus-
gesprochenen Organismusgedanken einer idealistiseh-
historischer Entwicklung der Typen geben zu können:
das höchste Wesen habe nicht die Schönheit und Pro-
portion, sondern nur den Nutzen der Teile itn Auge ge-
habt (Klein Lankum, 31. August 1785 an Herder). Zu-

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