Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen
— 10./11.1928/29
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https://doi.org/10.11588/diglit.25877#0513
DOI issue:
1./2. Juliheft
DOI article:Riess, Margot: Paläste und Kirchen in Umbrien
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läßt. Hier durfte auch ein Lucca Signorelli als geistiger
Vorfahr Michelangelos an den Wänden der Domkapelle
sein grandioses Bekenntnis zum Freien, Nackten, Natür-
lichen des menschlichen Körpers rückhaltlos ausspre-
chen, — Dinge, die im mystischen Halbdunkel nordi-
scher Dome wie banales Erinnern an Vergänglichkeit
und Alltäglichkeit wären, reihen sich hier als selbst-
verständlich in die allgemein lichtere Stimmung ein.
Die Gestalt des durch die Lüfte sausendeu Teufels mit
dem jungen Weibe auf dem Rücken hat kein Geringerer
als Michelangelo selber in seinem Jüngsten Gericht als
Zitat übernommen. Zwar scheint uns das ganze gewal-
tige Gerank der Leiber allzu bewußt komponiert, um
uns hinzureißen. Doch mag man sicli immer wieder vor
Augen halten, daß es eben im südlichen Gottesdienstc
(von dem die Bilder ja ein hochwesentlicher Teil sind)
auf Hinreissen, Ueberwältigtwerden, in Hingebung Ver-
gehen nicht wie im Norden zuerst ankommt, sondern
eher auf schulklares Schauen, Ablesen, Vergleichen,
Hinführen, so daß der Gläubige doch immer noch sich
selbst zu behalten, sein persönliches, plastisches Einzel-
Ich zu bewahren imstande bleiben soll. Ein Priester
im nahen Bolsena schlug sich mit Fragen und Skrupeln
ob der Wahrheit der Transsubstantiation. Da, als er
einmal mit schwerzweifelnder Seele die Messe las, be-
gann die Hostie plötzlich zu bluten. Das beflecktc
Altartuch ließ Papst Urbau IV. (itn 13. Jahrhundert)
nach Orvieto schaffen und die Bürger der Stadt be-
schlossen, diesem Corporale einen würdigen Schrein
Kathedrale zu Orvieto. Fassade
Urbino, Palazzo Ducale. 15. Jahrh.
zu errichten: so wurde trotz tobender Bürgerkriege,
Pest und Not de’- Wunderbau des Domes von Ortieto
geschaffen — höchster Beweis der wenigstens zeitwei-
ligen gänzlichen Unabhängigkeit des Geistigen vom
materiellen Boden.
Wie berührt uns in Perugia, wo die Straßen die-
selben Wellen willig mitmachen wie die umgebenden
Berge, das Unsteife, Nachgiebige Raffaellische allent-
halben überzeugend! Hier, die enggewundene Gasse
hinab schritt der Jüngling tagtäglich zum rechtschaffen-
den Meister Perugino. In dem halbzerstörten Wand-
fresko der kleinen Kirche von San Severo kann man
das Vorhandensein und zugleich den großen Abstand
von Meister und Schüler noch deutlich ablesen. Ueber
den etwas schullehrerhaften Charäkterköpfen der hei-
ligen Männer dcs Meisters Pietro thront auf Wolken cin
unendiich miidreicher segnender Christus von der Hand
des ganz jungen Raffaello, umgeben von betenden
Engeln, von denen zwei im Gewand der vornehmen
Bürgerinnen der Zeit sich grazievoll zu den Irdischen
herunterneigen mit einem begütigenden versöhnenden
„Drüberhinweglächeln“, das aus einem ganz persön-
lichen überkirchlichen Begreifenkönnen stammen mußte.
Betrachtet man dann im Palazzo Communale die Fres-
ken des Meisterts, der sich nach seiner Stadt Perugia
nannte, in ihrem monumentalen Ernst, so wiil sicli wolil
etwas in einem dagegen empören, daß liier der Schüler
den gänzen Nachruhm fiir sich allein nahm; doch sagt
uns ein Blick auf die Jahreszahlen, daß es hier der Mei-
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Vorfahr Michelangelos an den Wänden der Domkapelle
sein grandioses Bekenntnis zum Freien, Nackten, Natür-
lichen des menschlichen Körpers rückhaltlos ausspre-
chen, — Dinge, die im mystischen Halbdunkel nordi-
scher Dome wie banales Erinnern an Vergänglichkeit
und Alltäglichkeit wären, reihen sich hier als selbst-
verständlich in die allgemein lichtere Stimmung ein.
Die Gestalt des durch die Lüfte sausendeu Teufels mit
dem jungen Weibe auf dem Rücken hat kein Geringerer
als Michelangelo selber in seinem Jüngsten Gericht als
Zitat übernommen. Zwar scheint uns das ganze gewal-
tige Gerank der Leiber allzu bewußt komponiert, um
uns hinzureißen. Doch mag man sicli immer wieder vor
Augen halten, daß es eben im südlichen Gottesdienstc
(von dem die Bilder ja ein hochwesentlicher Teil sind)
auf Hinreissen, Ueberwältigtwerden, in Hingebung Ver-
gehen nicht wie im Norden zuerst ankommt, sondern
eher auf schulklares Schauen, Ablesen, Vergleichen,
Hinführen, so daß der Gläubige doch immer noch sich
selbst zu behalten, sein persönliches, plastisches Einzel-
Ich zu bewahren imstande bleiben soll. Ein Priester
im nahen Bolsena schlug sich mit Fragen und Skrupeln
ob der Wahrheit der Transsubstantiation. Da, als er
einmal mit schwerzweifelnder Seele die Messe las, be-
gann die Hostie plötzlich zu bluten. Das beflecktc
Altartuch ließ Papst Urbau IV. (itn 13. Jahrhundert)
nach Orvieto schaffen und die Bürger der Stadt be-
schlossen, diesem Corporale einen würdigen Schrein
Kathedrale zu Orvieto. Fassade
Urbino, Palazzo Ducale. 15. Jahrh.
zu errichten: so wurde trotz tobender Bürgerkriege,
Pest und Not de’- Wunderbau des Domes von Ortieto
geschaffen — höchster Beweis der wenigstens zeitwei-
ligen gänzlichen Unabhängigkeit des Geistigen vom
materiellen Boden.
Wie berührt uns in Perugia, wo die Straßen die-
selben Wellen willig mitmachen wie die umgebenden
Berge, das Unsteife, Nachgiebige Raffaellische allent-
halben überzeugend! Hier, die enggewundene Gasse
hinab schritt der Jüngling tagtäglich zum rechtschaffen-
den Meister Perugino. In dem halbzerstörten Wand-
fresko der kleinen Kirche von San Severo kann man
das Vorhandensein und zugleich den großen Abstand
von Meister und Schüler noch deutlich ablesen. Ueber
den etwas schullehrerhaften Charäkterköpfen der hei-
ligen Männer dcs Meisters Pietro thront auf Wolken cin
unendiich miidreicher segnender Christus von der Hand
des ganz jungen Raffaello, umgeben von betenden
Engeln, von denen zwei im Gewand der vornehmen
Bürgerinnen der Zeit sich grazievoll zu den Irdischen
herunterneigen mit einem begütigenden versöhnenden
„Drüberhinweglächeln“, das aus einem ganz persön-
lichen überkirchlichen Begreifenkönnen stammen mußte.
Betrachtet man dann im Palazzo Communale die Fres-
ken des Meisterts, der sich nach seiner Stadt Perugia
nannte, in ihrem monumentalen Ernst, so wiil sicli wolil
etwas in einem dagegen empören, daß liier der Schüler
den gänzen Nachruhm fiir sich allein nahm; doch sagt
uns ein Blick auf die Jahreszahlen, daß es hier der Mei-
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