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Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 10.1910/​1911

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Redaktioneller Teil
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Riess, Paul: Zur Geschmacksbildung des Kaufmanns
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https://doi.org/10.11588/diglit.52067#0211

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heft H5.

Die Werkstatt der Runst.

203

Redaktioneller Teil.

Tur Gesckmacksbilcturig ctes
Kaufmanns
von Prof. Paul Rieß-Dessau*)
Stark und energisch wird bereits seit einem Jahre die
Geschmacksbildung des Gesamtkaufmannsstandes von allen
Einsichtigen und weitblickenden gefordert, und durch eine
Reihe von Vorträgen in größeren Städten Deutschlands
hat man den weg beschritten, der zur Erreichung dieser
ethischen und ästhetischen Eigenschaft heutiger Produktion
und Konsumtion führen soll. Englands und Frankreichs
Ueberlegenheit in Geschmacksdingen und die damit ver-
bundene Abhängigkeit unseres Geschmackes bilden kein
Ruhmeszeugnis für die deutsche Nation. Dieser ästhetische
Vorteil hat den beiden führenden Ländern ein Uebergewicht
auf dem Weltmärkte verschafft, das uns fortgesetzt mate-
rielle und ideelle Verluste zufügt. Schon aus einem ge-
wissen Selbsterhaltungstriebe heraus ist es daher endlich
an der Zeit, daß wir zur Einsicht und Einkehr gelangen
und mit allen erreichbaren Mitteln zu erstreben versuchen,
dieses Manko in Geschmacksdingen auszumerzen. Kurz-
sichtig und töricht wäre es, wenn der Kaufmann sich den
Mahnrufen unserer geistigen Führer gegenüber tatenlos ver-
halten und weiterhin Zusehen würde, wie fortgesetzt un-
gezählte Millionen dem deutschen Nationalvermögen verloren
gehen. Aber es gilt ja hier nicht allein eine finanzielle
Rückeroberung zu machen, sondern die damit verbundenen
moralischen, ethischen und ästhetischen werte sind
ebenso stark in Rechnung zu stellen. Kunst, Kunstgewerbe,
Industrie und handel verlangen ganz energisch nach einer
geschmacklichen und wertsteigernden Mitarbeit des deut-
scher: Kaufmanns st andes, der, soweit er nicht Produ-
zent und Konsument ist, als der Vermittler zwischen
beiden eine große Aufgabe zu erfüllen hat. „Er kann dem
willigen Fabrikanten den Absatz geschmackvoller Erzeugnisse
unmöglich machen und die Käufer durch das Angebot von
Schund verderben. Besitzt er aber Verständnis, versteht er
das Gute und leistet ihm Vorschub, dann kann sein wirken
nach jeder Seite hin von den schönsten Erfolgen begleitet
sein." (Jessen.)
Der Zukunstssieg gehört aber der geschmackvollen
(Qualitätsware, bei welcher neben dem ästhetischen Be-
hagen auch die materiellen Interessen Befriedigung finden
werden. „Es ist aus die Dauer weder klug noch fördernd,
wenn der Kaufmann sein heil nur in der Billigkeit sucht,
wenn er dadurch die Produktion nur technisch und ge-
schmacklich abwärts führt. Die Zeit ist nahe, wo aus dem
Weltmarkt andere Völker billiger produzieren als wir.
wir müssen unsere gut gelohnten Arbeiter und unsere ge-
schulte Intelligenz möglichst an Ausgaben stellen, an denen
dieses höhere Können geschätzt und entlohnt wird: wir
müssen auf Qualitätsarbeit zielen. Und dafür müssen
wir vor allem die im deutschen Volke lebendige, reiche
Künstlerkraft einsetzen, womit unternehmende und umsichtige
Kaufleute bereits begonnen haben." (Jessen.)
So verdienstvoll und anerkennenswert die bis jetzt
vorliegenden Bestrebungen, die auf eine Geschmacksbildung
des deutschen Kaufmanns abzielen, und an deren Spitze
neben dem „Deutschen Werkbund" der Vorsitzende des
„Deutschen Verbandes sür das Kaufmännische Unterrichts-
wesen", Geheimrat vr. Stegemann-Braunschweig, steht,
zu nennen sind, so lehrt uns doch die in solchen Dingen
gemachte Erfahrung, daß allen Vorträgen, die ich hier als
theoretische vornahmen bezeichnen will, nur ein be-
dingter wert beizulegen ist. Das Wort allein gleitet
in den meisten Fällen eindruckslos an unserem Begriffs-
vermögen vorüber, und das natürliche verlangen nach
einer Kenntnis des gegenständlichen vortragsinhalres bleibt
unbefriedigt. Näher kommen wir einer intellektuellen Be-

*) Aus der „Zeitschrift für das gesamte kaufmännische Unterrichts-
wesen" (stzsO, Nr. 5).

tätigung des Zuhörers, wenn wir mit dem Wort das
Bild verbinden. Aus diesem Grunde greifen wir ost
zu dem Lichtbildervortrag, dem aber in der Geschmacks-
bildung kein allzugroßer wert beizumessen ist. Das Licht-
bild kann uns nur den rohen, gefühlsarmen und äußer-
lichen Eindruck des (Objektes, und diesen ost nur in
verzerrtem Maßstabe, vermitteln, aus den lebendigen
Ausdruck, die Wiedergabe der ästhetischen Mo-
mente, die in der Schönheit des Materials und in der
Farbe liegen, verzichtet es ganz, hier kurz ein Beispiel.
Kann ich mir durch das Lichtbild eine zutreffende und er-
schöpfende Vorstellung von einem Möbelstück machen, bei
dem neben der Form die Struktur des Holzes, seine
Farbe und seine Bearbeitung so ausschlaggebend für
die Geschmacksbildung sind? Alle diese geschmacklichen
Eigenschaften gehen mir in dem nüchternen Lichtbild ver-
loren. Und darum ist der erziehliche Wert dieser Demon-
strationsart gleich Null, wenn wir aus den Geschmackssinn
einwirken wollen.
Daher resümiere ich: Die Vorträge können einen wich-
tigen Bestandteil in der Geschmacksbildung abgeben, und
das gesprochene Wort kann den Boden schürfen sür das
Samenkorn der Praxis. Aber ohne praktische Lehre
und Uebung gibt es keine Sachkenntnis, ohne Sach-
kenntnis keine Urteilsfähigkeit.
Geschmack besteht in derFähigkeit, ein ästhe-
tisches Werturteil fällen zu können. Eine prak-
tische Kennerschaft muß erworben werden durch
die praktische Lehre, die praktische Erfahrung
und die praktische Betätigung.
Aus der Praxis heraus wissen wir, daß das eigene
Erlebnis, das mit Mühen verbundene Erfassen eines Stoffes,
einer Sache erst unserem Begriffsvermögen als dauernder
Bestandteil einverleibt werden kann. Die intellektuelle
Bearbeitung eines Lehr- und Lerngebietes, die persönliche
Gewinnung eines Geschmacksurteils durch praktische Uebung
und Betätigung schließen erst positive Erziehungs-
resultate in sich.
Ist uns diese Erkenntnis geworden, dann drängt sich
uns von selbst die Schlußfolgerung aus, durch ein plan-
mäßiges vorgehen, durch die Zuhilfenahme eines systema-
tischen Lehrganges den Geschmacksunterricht zu erteilen.
Dem Lehrplan der kaufmännischen Fachschulen müssen
theoretische und praktische Uebungsstunden der
Geschmacksbildung eingereiht und diese dem Schüler in
pädagogischer Form zugeführt werden.
Bei dem diffizilen Charakter der Geschmacksmaterie
sollen hier keineswegs die Schwierigkeiten, die sich einem
solchen Lehrsyftem in Ausban und Ausübung entgegen-
stellen, verkannt werden, doch teile ich keineswegs den
Pessimismus der Künstler und Aestheten der Lehrbarkeit
einer künstlerisch-ästhetischen Erziehung gegenüber. Ich will
hier nicht nur die ost erfreulichen Resultate des Hand-
sertigkeitsunterrichtes unserer Schulen, sondern vor allen
Dingen die eigene praktische Erfahrung im künstlerischen
Unterricht heranziehen, um die Brauchbarkeit meines ge-
schmacksbildnerischen Lehrsystems beweisen zu können. Und
setzen wir heute vollends bei der Jugend, dem biegsamen
und schmiegsamen Lernmaterial ein, so müssen sich hiev
Grundregeln, Normen, Thesen und unumstößliche
Gesetze geschmacklicherNatur am besten und in breitev
Wirkung applizieren lassen. Daß gegenüber einzelnen un-
fähigen Elementen auch die heftigsten Geschmacksinjektionen
versagen werden, naturgemäß versagen müssen, bedarf weiter
keines näheren Wortes. Solchen erfolglosen Bemühungen
begegnen wir selbst aus unseren Kunstakademien und Kunst-
gewerbeschulen. Aber ebenso wissen wir auch, daß ein
jeder Mensch, der an einen Geschmacksgegenstand gestaltend
herantritt, sich in den meisten Fällen mit Bewußtsein von
der Lösung des geschmacklichen Problems Rechenschaft geben
wird. Hierbei ist der Intellekt oft mechr beteiligt
als der Instinkt. Der bedingte Widerspruch zwischen
 
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