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Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 14.1914/​1915

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Heft 9
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Redaktioneller Teil
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Neumann, Carl: Nationale und internationale Kunst: Deutschland und Frankreich, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.55564#0107

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XIV, Heft 9.

Die Werkstatt der Runst.

99

RectaktionellLr rieil.
Nationale uncl internationale Runkt. Veulscklancl unä ^rankreick.*)
von Carl Neumann.

Oer rückwärts gewendeten Betrachtungen über
den Zusammenbruch des bisherigen Zustandes von
Europa fängt man an genug zu haben. Wir müssen
versuchen, die Umrisse dessen, was kommt und wird,
zu fassen. Auf die bildende Runst allein kann sich die
folgende Betrachtung nicht beschränken.
Zn Hunderten von Äußerungen kann man es heute
lesen, die Runst dürfe von dem Völkerstreit nicht be-
rührt werden, sie müsse von nationalen Rümpfen und
politischen Demonstrationen unangetastet bleiben.
Denn Runst sei etwas Übernationales, ein Gemein-
besitz der Welt und sozusagen eine neutrale Wacht.
Sie sei es auch deswegen, weil Runst nicht überall ge-
deihe, sondern vielleicht wie gewisse Naturgaben,
Wein oder Maulbeeren, an bestimmte Zonen gebun-
den sei, und also müsse Runst im Bedürfnisfall ge-
liehen werden, vielleicht von den Griechen, vielleicht
von den Italienern, vielleicht von den Franzosen.
Unsere Nachbarn sagen gern, die Deutschen hätten
wohl musikalische, aber keine bildkünstlerische Begabung,
und die Italiener berufen sich, seit die Herrschaft der
italienischen Oper gebrochen worden ist, auf den
Liegeszug ihrer bildenden Runst, dem ganz Europa
gefolgt sei. Wir sollten nur Maschinen bauen und die
Technik fördern, es aber im übrigen bei den „Rlassi-
kern der Runst" bewenden lassen.
Alles das und ähnliches hat man hundertmal ge-
druckt gelesen.
Und wenn sich dann der Deutsche wirklich mit bun-
ten Lappen fremder Runst behängt, seine Flitter von
Yokohama bis Paris zusammensucht und sich als
Ästhet seiner Rennerschaft brüstet, ist es dann ver-
wunderlich und nicht vielmehr selbstverständlich, was
wir dann eintreten sehen? daß sich nämlich ernst tüch-
tige Deutsche von solchem Ästhetengesindel abwenden
und einen heiligen Zorn gegen Runst überhaupt
in sich aufbringen, als sei Runst nichts anderes als
Sgbaritismus, ein verweichlichungsprozetz, der der
Nation das Mark aus den Gliedern sauge, alle ihre
guten Rräfte annage, also eine Rrankheit, die man
vom blühenden Leib der Nation fernhalten müsse.
Ich verachte solche Stimmen gar nicht. Sie sind
ehrlich und treffen eine Ärt Wahrheit. Sie irren zwar,
indem sie glauben, in einer Zeit, die starke und stärkste
Nerven fordert, sei für Runst kein Platz weiter- sie
irren, indem sie glauben, Runst sei eine Sache schwa-
cher Nerven. Goethe und Rembrandt hatten feine
Runstnerven, und doch keine schwachen Nerven.
Uber jene Stimmen haben nach einer andern Seite
recht. Was sie fürchten, fürchten auch wir anderen

*) Mit gütiger Genehmigung von Redaktion und Ver-
lag der „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft,
Runst und Technik" entnommen.

seit langem und leiden darunter. Nämlich wir leiden
unter dem Zustand einer Runstbetätigung, die in
engen Rreisen von Angebot und Nachfrage Sport und
Luxus ist, ein Fremdkörper, der nicht aus dem tiefen
und dauernden Leben der Nation geboren ist. Nur
aus der Tatsache, daß wir so viel falsche Begriffe und
falsche Übung von Runst haben, daß Reste eines über-
lebten Rlassizismus neben den Orakeln eines dröhnen-
haften Ästhetentums und neben der platten Gedanken-
losigkeit uns quälen, erklärt sich das Phantom einer
internationalisierten Runst.
Es sind über hundert Zähre, daß Wilhelm Hum-
boldt an Goethe schrieb: wer sich mit Philosophie und
Runst beschäftigt, gehört seinem Vaterland eigentüm-
licher an als ein anderer. Philosophie und Runst sind
mehr der eigenen Sprache bedürftig, welche die Emp-
findung und die Gesinnung sich selbst gebildet haben
und durch sie wieder gebildet worden sind. Eben durch
ihre Runst, bemerkt Humboldt, sei die Verschiedenheit
der Nationen im Zunehmen. (Ich zitiere nach Fried-
rich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat im
Z. Rapitel).
Wenn also Wilhelm Humboldt, der das Gegenteil
eines Nationalisten heutiger Prägung war, die Runst
als ein feinstes individuelles Gebilde, als den höchsten
Ausdruck des besonderen gestaltenden vermögens
einer Nation anspricht, so vertritt er genau die ent-
gegengesetzte Meinung zu der heute geläufigen, die
uns glauben machen will, Runst sei ein internationa-
les Genußmittel, schnüffelnd aus allen Zonen der
weiten Welt zusammengesucht.
Um es kurz zu sagen: diese Vorstellung einer über-
zeitlichen und übernationalen Runst ist nichts als ein
letzter Rest, ein Ladenhüter jenes Rosmopolitismus,
der im l8. Zahrhundert wurzelnd eine großartige,
aber nun zertrümmerte Weltanschauung gewesen ist,
und deren bereits verspätete Zünger die Sozialdemo-
kraten — man darf wohl sagen: gewesen sind. Über
den Widerstand dieser Weltauffassung gegen die
Nationalstaatsbildung des 19. Zahrhunderts in Deutsch-
land hat Meinecke ein eindringliches Buch geschrieben.
Ein ähnlich aufklärendes Merk über den Streit zwi-
schen internationaler und nationaler Runst, den Streit
zwischen Raphael und Rembrandt, besitzen wir nicht.
Man hat uns lange einreden wollen, einen solchen
Ronflikt könne es für uns Deutsche nicht geben, denn
wir seien das auserwählte „Menschheitsvolk", die
modernen Griechen,- eben unser unpolitischer Cha-
rakter (was man einst die „Freiheit vom politischen
Alltag" nannte, was wir aber politische Unreife nen-
nen) ermögliche und befördere es, kurzerhand die
Brücke vom Individuum zum Idealmenschentum zu
schlagen und so, ohne die befangene Zwischenstufe
einer politischen Nation durchzumachen, uns zum ab-
 
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