Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912
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Singer, Hans Wolfgang: Berthold Hellingraths Radierungen aus dem alten Danzig
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HÄUSER AN DER MOTTLAU (RADIERUNG)
BERTHOLD HELLINGRATHS RA-
DIERUNGEN AUS DEM ALTEN
DANZIG.
VON PROF. DR. HANS W. SINGER.
Die Radierung ist eigentlich die nervöseste,
ungebundenste Kunstübung, die wir kennen.
Sie ist selbst noch freier und weniger plan-
mäßig als die Federzeichnung; denn bei ihr
gibt es unvorhergesehene Zufälligkeiten, mit
deren Auftreten, trotzdem man es nicht vorher
genau bestimmen kann, man doch gewisser-
maßen als künstlerischem Einsatz rechnen darf.
Da könnte es uns nun eigentlich seltsam Vor-
kommen, daß diese zügellose Kunstübung sich
besonders gern ein Thema vornimmt, an dem
die feste Fügung, die völlige Abwesenheit spie-
lerischer Willkür, nichts weniger als Hauptmerk-
DIE KUNSTWELT I, 3
BERTHOLD HELLINGRATH-DRESDEN
male sind, — ich meine die Architektur. Selbst
die Plastik kann sich zu jeder Künstlerlaune
fast hergeben: bei der Baukunst sind die Senk-
rechte und die Wagerechte unerbittliche Gesetze,
von denen die ganze Kunst ausgeht: in ihr
gibt es nicht einmal die Willkür der losgelösten
Diagonale. Aber es scheint, daß sich hier
wiederum einmal die Gegensätze anziehen, und
während zum Beispiel die Plastik sie' so gut
wie nie angezogen hat, hat die Radierung von
altersher eine Neigung zur Architektur gehabt,
die fast so stark war wie jene, welche sie zur
Landschaft führte.
Aus früher Zeit steht uns vor allem Bellotto,
oder wie er meist genannt wird, der jüngere
Canaletto, als prächtiger Architekturradierer vor
Augen. Er hat in ganz wunderbarer Weise
dasselbe feine Gefühl für klare Luft und helles
Licht, das seine Gemälde auszeichnet, auch in
159
BERTHOLD HELLINGRATHS RA-
DIERUNGEN AUS DEM ALTEN
DANZIG.
VON PROF. DR. HANS W. SINGER.
Die Radierung ist eigentlich die nervöseste,
ungebundenste Kunstübung, die wir kennen.
Sie ist selbst noch freier und weniger plan-
mäßig als die Federzeichnung; denn bei ihr
gibt es unvorhergesehene Zufälligkeiten, mit
deren Auftreten, trotzdem man es nicht vorher
genau bestimmen kann, man doch gewisser-
maßen als künstlerischem Einsatz rechnen darf.
Da könnte es uns nun eigentlich seltsam Vor-
kommen, daß diese zügellose Kunstübung sich
besonders gern ein Thema vornimmt, an dem
die feste Fügung, die völlige Abwesenheit spie-
lerischer Willkür, nichts weniger als Hauptmerk-
DIE KUNSTWELT I, 3
BERTHOLD HELLINGRATH-DRESDEN
male sind, — ich meine die Architektur. Selbst
die Plastik kann sich zu jeder Künstlerlaune
fast hergeben: bei der Baukunst sind die Senk-
rechte und die Wagerechte unerbittliche Gesetze,
von denen die ganze Kunst ausgeht: in ihr
gibt es nicht einmal die Willkür der losgelösten
Diagonale. Aber es scheint, daß sich hier
wiederum einmal die Gegensätze anziehen, und
während zum Beispiel die Plastik sie' so gut
wie nie angezogen hat, hat die Radierung von
altersher eine Neigung zur Architektur gehabt,
die fast so stark war wie jene, welche sie zur
Landschaft führte.
Aus früher Zeit steht uns vor allem Bellotto,
oder wie er meist genannt wird, der jüngere
Canaletto, als prächtiger Architekturradierer vor
Augen. Er hat in ganz wunderbarer Weise
dasselbe feine Gefühl für klare Luft und helles
Licht, das seine Gemälde auszeichnet, auch in
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