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DIE HEIMATSTADT ALS KUNST-
ERZIEHERIN. VON KARL FR.
NOWAK.
Auch die Städte schenken uns Kinderlieder,
halb unbewußt erlauschte, frühe Melodien, die
heimlich immerzu, fast unverwischt und später
stets aufs neue hervorgeholt, unsern Alltag,
unser Werden und unsern Ausklang noch be-
gleiten . ..... Es ist das Bild des Platzes, auf
dem wir unsere wilden Jugendstreiche voll-
führten, ein gotischer Dom, der riesenhaft über
dem Knirps in helle Abendhimmel wuchs, ein
lautlos träger Fluß, der zwischen grünen, ein-
samen Glacis hinstrich, die Tag um Tag die
gleichen waren, nur einmal wetterverhangen und
dann wieder sonnbeglänzt: all das steht, Bild
um Bild, von schnellen,
nimmermüden Augen auf-
gesogen, unerschütterlich
noch in der spätesten
nachzeichrienden Erinne-
rung. Dann schauen wir
gewiß im irdischen Hin und
Her weit prunkvollere, be-
rauschendere Kostbarkeiten,
als der Kindheitsspielplatz
gab: der Glanz der frem-
den Städte, jeder in an-
derem Rhythmus, jeder in
anderen Farben verschwen-
det, verwirrt und betört uns,
die Wunder des Südens
locken und der ferne mon-
golische Osten vielleicht
öffnet sein Märchentor.
Dennoch winkt nirgends
mehr, überwältigt nirgends
mehr das Geheimnis ersten
staunenden Welterwachens:
die ersten Rätsel und ihre
erste bewunderte Lösung,
das erste ästhetische Be-
greifen, das selbst noch vom
Begriff der Ästhetik nichts
weiß, schenkt uns vor allen
hingestreuten Herrlichkeiten
der Welt die Kindheits-
stadt . . .
Sie allein. Sie ist das
erste mütterliche Antlitz der
Welt draußen, der erste
Spiegel, woraus die Dinge
schimmern, Form gewin-
nen und Maßstäbe erhal-
ten. So kann’s nicht gleich-
gültig sein, von welcher
Art solch ein Spiegel be-
schaffen ist, weder gleichgültig für den Ein-
zelnen, für das Genie, noch für die Vielen und
sogar die Vielzuvielen. Dichter, Maler verraten
mitunter ihr sprödes, schwer faßbares Wesen
leichter, wenn man die Landschaft aufspürt, in
der ihre ersten Eindrücke von Welt, Natur und
Menschen wurden. Aus Mozarts Geigen, aus
all seinen Menuetten klang bis zuletzt noch die
ersterschaute Anmut der Salzachstadt. Vielleicht
aber ist das ästhetische Erbgut, das jedem von
uns die Heimatscholle mitgibt, für die unabseh-
bare Menge der Ungekannten und Ungenannten
noch wichtiger, als für die Genies, die die eigene,
überreiche Innenkraft auch über die äußere
Kargheit unverschönter Jugendwelt strahlend
forttragen mag. Kein Zufall nur, wenn die eng
zusammengerückten, im Alltag unablässig hasten-
LOUIS KOLITZ
MÄDCHEN IN DER KIRCHE. ÖLGEMÄLDE
DIE HEIMATSTADT ALS KUNST-
ERZIEHERIN. VON KARL FR.
NOWAK.
Auch die Städte schenken uns Kinderlieder,
halb unbewußt erlauschte, frühe Melodien, die
heimlich immerzu, fast unverwischt und später
stets aufs neue hervorgeholt, unsern Alltag,
unser Werden und unsern Ausklang noch be-
gleiten . ..... Es ist das Bild des Platzes, auf
dem wir unsere wilden Jugendstreiche voll-
führten, ein gotischer Dom, der riesenhaft über
dem Knirps in helle Abendhimmel wuchs, ein
lautlos träger Fluß, der zwischen grünen, ein-
samen Glacis hinstrich, die Tag um Tag die
gleichen waren, nur einmal wetterverhangen und
dann wieder sonnbeglänzt: all das steht, Bild
um Bild, von schnellen,
nimmermüden Augen auf-
gesogen, unerschütterlich
noch in der spätesten
nachzeichrienden Erinne-
rung. Dann schauen wir
gewiß im irdischen Hin und
Her weit prunkvollere, be-
rauschendere Kostbarkeiten,
als der Kindheitsspielplatz
gab: der Glanz der frem-
den Städte, jeder in an-
derem Rhythmus, jeder in
anderen Farben verschwen-
det, verwirrt und betört uns,
die Wunder des Südens
locken und der ferne mon-
golische Osten vielleicht
öffnet sein Märchentor.
Dennoch winkt nirgends
mehr, überwältigt nirgends
mehr das Geheimnis ersten
staunenden Welterwachens:
die ersten Rätsel und ihre
erste bewunderte Lösung,
das erste ästhetische Be-
greifen, das selbst noch vom
Begriff der Ästhetik nichts
weiß, schenkt uns vor allen
hingestreuten Herrlichkeiten
der Welt die Kindheits-
stadt . . .
Sie allein. Sie ist das
erste mütterliche Antlitz der
Welt draußen, der erste
Spiegel, woraus die Dinge
schimmern, Form gewin-
nen und Maßstäbe erhal-
ten. So kann’s nicht gleich-
gültig sein, von welcher
Art solch ein Spiegel be-
schaffen ist, weder gleichgültig für den Ein-
zelnen, für das Genie, noch für die Vielen und
sogar die Vielzuvielen. Dichter, Maler verraten
mitunter ihr sprödes, schwer faßbares Wesen
leichter, wenn man die Landschaft aufspürt, in
der ihre ersten Eindrücke von Welt, Natur und
Menschen wurden. Aus Mozarts Geigen, aus
all seinen Menuetten klang bis zuletzt noch die
ersterschaute Anmut der Salzachstadt. Vielleicht
aber ist das ästhetische Erbgut, das jedem von
uns die Heimatscholle mitgibt, für die unabseh-
bare Menge der Ungekannten und Ungenannten
noch wichtiger, als für die Genies, die die eigene,
überreiche Innenkraft auch über die äußere
Kargheit unverschönter Jugendwelt strahlend
forttragen mag. Kein Zufall nur, wenn die eng
zusammengerückten, im Alltag unablässig hasten-
LOUIS KOLITZ
MÄDCHEN IN DER KIRCHE. ÖLGEMÄLDE