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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912

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Gespräche Rodins über die Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.27186#0844

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LADY P. ALASTAIR

Gespräche rodins über die

KUNST.

Auguste Rodin, der Meister von Meudon,
hat einem begeisterten Verehrer, Paul Os eil,
auf abendlichen Spaziergängen unter den Bäu-
men seiner malerischen Besitzung seine Be-
trachtungen über die Kunst mitgeteilt. Gsell
hat diese Gespräche gesammelt und in einem
höchst lesenswerten Buche niedergelegt, das auch
in deutscher Ausgabe unter dem Titel: „Auguste
Rodin. Die Kunst. Gespräche des Meisters“
im Verlage von Ernst Rowohlt, Leipzig, er-
schienen ist. Aus diesem interessanten Buche,
dessen äußeres Gewand der Würde seines Inneren
entspricht, seien folgende Äußerungen des größten
lebenden Plastikers Frankreichs mitgeteilt:
Unsere Epoche gehört den Ingenieuren, den
Großkaufleuten und Fabrikbesitzern, aber nicht
den Künstlern.

Das moderne Leben richtet sich ganz und gar
auf den Nutzen; man bemüht sich, das Dasein
in materieller Hinsicht zu bessern .... Nach
Geist, Gedanken, Träumen fragt man nicht mehr.
Die Kunst ist tot.

Kunst ist Vergeistigung. Sie bedeutet die
höchste Freude des Geistes, der die Natur durch-
dringt und in ihr den gleichen Geist ahnt, von
dem auch sie beseelt ist. Sie ist ein Genuß
für den Verstand, der mit offenen Augen ins
Universum schaut und es dadurch von neuem
erschafft, daß er es mit Bewußtsein erleuchtet.
Die Kunst ist die erhabenste Aufgabe des Menschen,
weil sie eine Übung für das Denken ist, das
die Welt zu verstehen und sie verständlich zu
machen sucht.

Heute glauben die Menschen die Kunst ent-
behren zu können. Sie wollen nicht mehr nach-
sinnen, betrachten und ihre Phantasie anregen:
sie wollen nur noch physischen Genuß. Die
erhabenen und tiefen Wahrheiten sind ihnen
gleichgiltig; es genügt ihnen, ihre leiblichen
Gelüste zu befriedigen. Die Menschheit ist tierisch
und roh geworden; sie weiß mit den Künstlern
nichts anzufangen.

Kunst ist ferner Geschmack. Alle Dinge, die
ein Künstler bildet, müssen vom Reflex seines
Gefühls getroffen werden. Das Lächeln der
menschlichen Seele muß Haus und Hausgerät
verraten. Der Reiz geistiger Arbeit und gefühl-
voller Anteilnahme muß mit allem, was den
Menschen dient, untrennbar verbunden sein.
Aber wieviele Zeitgenossen empfinden die Not-
wendigkeit, ihr Haus und ihre Wohnung ge-
schmackvoll zu gestalten?

Einst, im alten Frankreich, gab es überall
Kunst. Die bescheidensten Leute, selbst die
Bauern, gebrauchten nur Dinge, deren Anblick

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