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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912

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Stern, Robert: Schöpfer und Geniesser
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CHÖPFER UND GENIESSER. VON
DR. ROBERT STERN--MÜNCHEN.

Schopenhauers Philosophie gipfelt be-
kanntlich in dem Satze: Die Welt ist mein

Wille und meine Vorstellung. Wo diese
Welt mit ihren Dingen und Gestalten, Formen
und Vorgängen sich an des Menschen Interesse
wendet, da versetzt sie sein ganzes Innere in
Aufruhr. In das geschaute Bild hinein ver-
weben sich unversehens aus dem Gedächtnisse
herbeieilende Gedanken, vom Herzen aufstei-
gende Gefühle und in der Brust erwachende
Willensimpulse. Durch dieses Zusammen-
wirken der verschiedenartigsten Sphären im
Akte des Beschauens werden zwei polare Tätig-
keiten im Beschauer ausgelöst: Der Genuß

am Geschauten und der Drang, das Geschaute
nachzuschaffen — der Schöpfer - Drang.

BRONCE-BÜSTE DES SÄCHSISCHEN STAATSMINISTERS v. METZSCH

WALTER SINTENISf, DRESDEN

Zwischen diesen beiden Empfindungen des
Gemüts und des Willens herrschen gesetzmäßige
Beziehungen: je größer der Genuß am wahr-
genommenen Bilde, desto intensiver tritt der
Wunsch hervor, dieses wiederzugeben, sei es
durch sprachliche Mitteilung im nachbildenden
Worte oder durch künstlerische Nachbildung
in der Form des Kunstwerkes.

Der lebendige Genuß macht den Künstler
zum Schöpfer. Kein Wunder, wenn seine fertige
Schöpfung wiederum dritten Genuß bereitet.
Jeder Prozeß kehrt sich um, lehrt der große
Hegel.

Einen simplen Natur-Abklatsch nennen wir
wohlweislich noch keine Schöpfung. Aus dem
einfachen Grunde, weil wir unter dem Begriffe
„schöpfen“ eine künstlerische Tätigkeit ver-
stehen, die über die Oberfläche des Scheins
hinweg zu einer gewissen Tiefe der Dinge
dringt. Diese Tiefe ist der Dinge
Grund, Gesetz, Wesen. Im schöp-
ferischen Akte wird aber auch jene
Tiefe mittätig, die unter des Künst-
lers eigenen Augen schlummert,
und das ist die Tiefe seines Ge-
müts und seines Denkens: seine
Seele und sein Geist.

Eine Schöpfung also versinnbild-
licht in Einem Oberfläche und Tiefe,
Erscheinung und Wesen der gebil-
deten äußeren Natur und der bil-
denden Menschen-Natur.

Sehend empfinden, tastend durch-
fühlend, umfassend erfassen, begrei-
fend ergriffen werdend, genießend
schöpfen, schöpfend genießen — so
bildet der wahre Künstler. Was
sein Auge sieht, das wird gestaltete
Form in seiner schaffenden Hand.
Was die Natur ihm an Schönem
zeigt, das bereichert und belebt
seine tätige Phantasie.

So entstehen die großartigen
Schöpfungen eines Tizian, Gior-
gione, Watteau, Millet, Schwind:
durch die Seele empfundene,
durch die Einbildungskraft ge-
schaute Natur.

Die Gemälde der großen Mei-
ster vermitteln uns köstliche Ein-
blicke in die Tiefen ihres inneren
Wesens, in welchem das Werk
selbst geboren wird.

Alle Schöpfer der Kunst haben
das Bild der Realität idealisiert. Sie
wollten und erreichten, daß die Na-
tur im Bilde der Kunst spreche, an-

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