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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912

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Kornick, Walter: Kinderbücher einst und jetzt
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https://doi.org/10.11588/diglit.27186#0203

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KINDERBÜCHER EINST UND JETZT

gerüstet sind. Die Technik, die uns so herrlich
weit gebracht, wird uns nicht lehren, den Wild-
bach des modernen Lebens zu verbauen. Und
so türmt sich riesengroß, mit beinahe drohen-
der Gebärde, die Aufgabe vor uns auf, dem
jungen Geschlecht, dessen Wartung in unsre
Hand gegeben, bessere Waffen zu reichen. Es
gelang nicht auf den ersten Schlag. Vermeinten
wir selber doch anfangs, durch allerlei künst-
liche Beruhigungsmittel der Gewalt des All-
tags uns entreißen zu können, durch Hin-
neigung unseres literarischen und künstlerischen
Genießens zum Primitiven, zur Romantik des
Urgroßväterlichen, — und aus der gleichen
Quelle mochte denn auch jene allzu hingebungs-
volle Sentimentalität stammen, mit der wir vor
zehn, fünfzehn Jahren an das Problem der
„Kunst im Leben des Kindes“ herantraten.
Ibsensche Emanzipationsgedanken vom Frauen-
dasein übertrug eine ganz irrige Auffassung des
erzieherischen Problems auf das Kindesdasein,
und man begreift heute, daß namentlich härtere
Naturen von diesem überzarten Kultus, mit dem
man das Kind umgab, sich abgestoßen fühlten.
Auch ist bekannt, welche verwirrenden Folgen

Aus: MOTHER OOOSE OR THE OLD NURSERY RHYMES.
Illustrated by KATE OREENAWAY. LONDON, CASSELL and Co.

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dieser individualistischen Bestrebungen nament-
lich im Schulbetriebe sich zeigten, Folgen, die
nur das eine Gute hatten, daß nunmehr die
zur Abhilfe allererst berufenen Kräfte durch die
Not der Dinge für die weitere Entwicklung ge-
wonnen wurden und in die Front traten: die
praktischen Pädagogen, die Lehrer. In Ham-
burg zuerst erstand eine „Lehrervereinigung
für die Pflege der künstlerischen Bildung“, und
sie wußte ihren umfassenden Bestrebungen von
Anbeginn eine felsenfeste Basis zu geben da-
durch, daß sie die Unterstützung bewährtester
Kunsterzieher und Künstler — eines Alfred
Lichtwark, Justus Brinckmann, Otto Ernst,
Gustav Falcke — suchte und fand.

Nun wehte Werkstattluft. Manch lustig Feuer
Flammen schlug. Dem Parfüm - Dunst der
Ästheten, Individualisten und Salonpädagogen
wurden die Fenster geöffnet. Das Buchdruck-
gewerbe, die graphische Technik, durch andere
Kräfte schon erstarkt und wohlvorbereitet, er-
kannten den Arbeitsanteil, der ihnen zufiel,
nahmen ihn mutig auf sich und wußten sich
gut den neuen Forderungen der Schulmänner
und Hygieniker, Künstler und Kunsterzieher
anzupassen. So ward dem Kinderbuch, dem
Bilderbuch die breite kunstgewerbliche Basis
gewonnen. Weiter wurden die Schätze der
nahen und fernen Vergangenheit durchsucht,
geprüft, neu gewertet. Man klopfte bei den
Volkskundlern an, ließ sich ihre Truhen öffnen
und lief heim, reich beschenkt wie die Gold-
marie der Frau Holle: das alte Volkslied, den
alten Kinderreim hatte man lebendig hervor-
geholt aus den Truhen der Wissenschaft!

So besitzen wir heute vielversprechende An-
sätze einer neuen Kultur des Kinderbuches.

Und doch steht all diesem wie immer ge-
arteten Bemühen, das Kind für die Kunst, die
Kunst für das Kind zu gewinnen, eine Tatsache
von höchster praktischer Wichtigkeit schroff
gegenüber: das Kind braucht die Kunst nicht.
Denn was uns Erwachsenen ästhetische Kultur
und Kunstgenuß zu einem Bedürfnis macht,
das ist ein Mangel in unserm inneren Dasein,
der der Kindesseele völlig fremd ist.

Wir suchen die Kunst, weil unser Wesen,
vom Glück und Jammer des ungebändigten
Lebens hin- und hergerissen, nach Entspannung
des Bewußtseins hungert. Wir suchen die Kunst
auch, weil sie allein es vermag, die unendlichen
Möglichkeiten der Lebenszustände, das Strahlen-
bündel ihrer ungezählten Entwicklungslinien,
die unter den rohen Händen des wirklichen
Lebens zerbrechen oder in dunkeln Fernen ver-
schwimmen und verschwinden, durch Geistes-
kraft neu erstehen zu lassen und ihre Bahnen
ins Unendliche hinein zu verfolgen.
 
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