Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912
Cite this page
Please cite this page by using the following URL/DOI:
https://doi.org/10.11588/diglit.27186#0217
DOI article:
Kornick, Walter: Kinderbücher einst und jetzt
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.27186#0217
KINDERBÜCHER EINST UND JETZT
erinnernde Schelmenmut Caldecotts, der doch
nie einen Augenblick sich ins Unkindliche
verliert, ist der zierlichen Kinderliebhaberin Kate
Greenaway völlig fremd. Auch sie empfindet
das Bedürfnis, für die zarttönenden Melodien
ihrer Bildchen aus dem rührendsten Kinder-
dasein einen Begleitton zu finden, die Harmonie
des Gesamteindrucks völlig zu sichern, und es
ist nicht verwunderlich, daß ihre Bilderchen
mit den „süßen kleinen Kindergestalten“, die
so wunderlich im Geschmack des zu Ende
gehenden achtzehnten Jahrhunderts gekleidet, auf
buntem Blumenrasen, in blühenden Obstgärten
und unter den treuherzig auf sie niederschau-
enden „Ochsenaugen“ altmodischer cottages „so
gentle, so unaffected in their affectation“ ihr
ungestörtes Dasein verbringen, nach einer be-
schaulich-dekorativen Umrahmung von ranken-
den Blütenzweigen, Knospen und zaghaften
Topfblumen verlangen, und es ist nicht ver-
wunderlich, daß Kate Greenaway so, ganz leise,
fast unmerklich und unbewußt, aus dem Liebes-
überfluß ihres Kindergemüts, nicht aus künst-
lerischem Verstände zum dekorativ beseelten
Buchschmuck gelangt und darüber zur genialen
Schöpferin eines völlig eigenen Kinderbuch-
Stiles wird. Nicht aus künst-
lerischem Verstände. Der
hingegen ist Walter Cranes
starke Seite, des noch lebenden
Dritten in dem Dreigestirn
englischer Kinderkunst. Man
wird Cranes glänzender Illu-
strationskunst und seiner un-
erschöpflichen Phantasie nicht
leicht die Bewunderung ver-
sagen und doch sich bewußt
bleiben, daß diese Art dem
deutschen Kinde am frem-
desten ist. In ihm lebt etwas
von der hellenisch kostümier-
ten schlanken Grandezza der
englischen Klassizisten vom
Geiste Sir Frederic Leightons.
Cranes Bilder, deren stili-
stische Klugheit in Form und
Farbe den Kenner überrascht,
scheinens vor allem auf die
Pracht- und Wunderliebe
kindlicher Augen abzusehen;
sie sind oft berauschend,
von feenhaftem Reiz, nicht
selten aber auch an den De-
korationsgeschmack von Bal-
lett- und Zirkuspantomime
grenzend.
In dem nämlichen Jahre
(1881), da in England Kate
Greenaways „Mother Goose,
or The Old Nursery Rhymes“
erschienen und in 66000
Exemplaren sehr rasch die
ganze zivilisierte Welt er-
oberten, sandte die deutsche
Kinderliteratur zwei verein-
zelte Vorläufer des erst etwa
20 Jahre später zu bewußter
Reife gelangenden künstle-
rischen Kinderbuches in die
Welt: Viktor Paul Mohns
„Kinder-Lieder und Reime“
Aus: „LUSTIGE GESCHICHTEN" von JOHANNA V. HOFER.
Mit 4 Bunt- und 25 Vollbildern nach Originalzeichnungen von CARL FABRINGER.
Zur Erzählung: „Die böse Katze“
LOEWE’S VERLAG FERDINAND CARL-STUTTGART
180
erinnernde Schelmenmut Caldecotts, der doch
nie einen Augenblick sich ins Unkindliche
verliert, ist der zierlichen Kinderliebhaberin Kate
Greenaway völlig fremd. Auch sie empfindet
das Bedürfnis, für die zarttönenden Melodien
ihrer Bildchen aus dem rührendsten Kinder-
dasein einen Begleitton zu finden, die Harmonie
des Gesamteindrucks völlig zu sichern, und es
ist nicht verwunderlich, daß ihre Bilderchen
mit den „süßen kleinen Kindergestalten“, die
so wunderlich im Geschmack des zu Ende
gehenden achtzehnten Jahrhunderts gekleidet, auf
buntem Blumenrasen, in blühenden Obstgärten
und unter den treuherzig auf sie niederschau-
enden „Ochsenaugen“ altmodischer cottages „so
gentle, so unaffected in their affectation“ ihr
ungestörtes Dasein verbringen, nach einer be-
schaulich-dekorativen Umrahmung von ranken-
den Blütenzweigen, Knospen und zaghaften
Topfblumen verlangen, und es ist nicht ver-
wunderlich, daß Kate Greenaway so, ganz leise,
fast unmerklich und unbewußt, aus dem Liebes-
überfluß ihres Kindergemüts, nicht aus künst-
lerischem Verstände zum dekorativ beseelten
Buchschmuck gelangt und darüber zur genialen
Schöpferin eines völlig eigenen Kinderbuch-
Stiles wird. Nicht aus künst-
lerischem Verstände. Der
hingegen ist Walter Cranes
starke Seite, des noch lebenden
Dritten in dem Dreigestirn
englischer Kinderkunst. Man
wird Cranes glänzender Illu-
strationskunst und seiner un-
erschöpflichen Phantasie nicht
leicht die Bewunderung ver-
sagen und doch sich bewußt
bleiben, daß diese Art dem
deutschen Kinde am frem-
desten ist. In ihm lebt etwas
von der hellenisch kostümier-
ten schlanken Grandezza der
englischen Klassizisten vom
Geiste Sir Frederic Leightons.
Cranes Bilder, deren stili-
stische Klugheit in Form und
Farbe den Kenner überrascht,
scheinens vor allem auf die
Pracht- und Wunderliebe
kindlicher Augen abzusehen;
sie sind oft berauschend,
von feenhaftem Reiz, nicht
selten aber auch an den De-
korationsgeschmack von Bal-
lett- und Zirkuspantomime
grenzend.
In dem nämlichen Jahre
(1881), da in England Kate
Greenaways „Mother Goose,
or The Old Nursery Rhymes“
erschienen und in 66000
Exemplaren sehr rasch die
ganze zivilisierte Welt er-
oberten, sandte die deutsche
Kinderliteratur zwei verein-
zelte Vorläufer des erst etwa
20 Jahre später zu bewußter
Reife gelangenden künstle-
rischen Kinderbuches in die
Welt: Viktor Paul Mohns
„Kinder-Lieder und Reime“
Aus: „LUSTIGE GESCHICHTEN" von JOHANNA V. HOFER.
Mit 4 Bunt- und 25 Vollbildern nach Originalzeichnungen von CARL FABRINGER.
Zur Erzählung: „Die böse Katze“
LOEWE’S VERLAG FERDINAND CARL-STUTTGART
180