EINE NEU AUSGABE VON GOB/NEAUS ,, RENAISSANCE“
naissance“ nicht nur den allgemein bekannten
Baustil, oder etwa die künstlerische Produktion
jener Zeit versteht, sondern, wie es doch ge-
schehen muß, den Begriff auf den Gesamtkomplex
geistiger, gesellschaftlicher und politischer Be-
wegungen und auf das daraus resultierende Pro-
dukt eines eigentümlichen Persönlichkeits- und
Massentypus in Italien anwendet (und man tut
gut, sich bei dem Begriff „Renaissance“ auf die
italienische zu beschränken und die national ge-
färbten, weniger stürmischen Prozesse in Frank-
reich, England, Deutschland und den Niederlanden
auszuschalten), bleibt den meisten etwa die Vor-
stellung von ins Übermenschliche verzerrten
Schattenfiguren. Sie scheinen an den mit kraß-
bunten Farben unheimlicher und abenteuerlicher
Begebenheiten bemalten Leinwandhintergründen
der Zeit vorüberzuhuschen. Aus diesem Chaos
wilder und regelloser Verschlungenheiten heben
sich dann hier und da die festumrissenen Ge-
stalten eines Lionardo, Raphael, Michelangelo,
Tizian, Julius II. deutlich ab; weniger deutlich
die schon von einem leisen Anhauch des Mythos
patinierten Figuren eines Savonarola, Machiavell,
Lorenzo di Medizi, Ludovico Sforza, des Cesare und
der Lucrezia Borgia und wie sie alle heißen, deren
Namen seltsam tönend durch die Zeiten klingen.
Ihren Zusammenhang mit der Zeit aber und
diese Zeit selbst als Reaktion
auf eine asketisch - abergläu-
bisch-religiöse Knechtung des
Menschengeistes, auf eine un-
erträgliche Begrenzung durch
das Ständewesen, auf eine zur
Zersprengung reif gewordene.
Macht- und Reichtumskonzen-
tration zu deuten, wissen nicht
alle. Nicht alle wissen, daß
hier eine gewandelte, auf Frei-
heit des Individuums zielende
Weltanschauung ihren Aus-
gangspunkt genommen, daß
hier ein geistesgeschichtlicher
Prozeß eingesetzt hat, der
heute noch nicht ganz ab-
geschlossen ist.
Und doch, über keine
Epoche existiert eine Literatur,
die gerade dem Laien einen
größeren Genuß und eine voll-
wertigere Bereicherung des
Geistes gewährte, als über die
Renaissance. Denjenigen, die
weder die Zeit noch den Willen
haben, sich an Hand der er-
schöpfenden und klassischen
Darstellung des Schweizers
Jacob Burckhardt eine der
seltsamsten und grandiosesten Erscheinungsformen
menschlicher Kultur zu eigen zu machen, denen
steht immerhin Graf Gobineaus „Die Renaissance“
zur Verfügung, ein Werk, das mit genauester
Kenntnis all der verwickelten sozialen und politi-
schen Strömungen das feinste Einfühlungsvermögen
in die Anschauungswelt der Hochrenaissance und
eine der Materie entsprechende sinnberauschende
dichterische Kraft verbindet. Die Lektüre dieses
Werkes gibt daher nicht nur ein genaues Bild
der Zeit, es gewährt zugleich auch einen der
feinsten künstlerischen Genüsse.
Durch die dramatische Form rückt Gobineau
uns sowohl das Milieu, wie die Gestalten, die
in ihm wirksam sind, mit lebendiger Kraft vor
Augen; er wahrt dabei nicht nur in äußerlich-
technischer Beziehung die dramatische Form, er
weiß seine Figuren auch von innen heraus dra-
matisch zu beleben, indem er die Triebfedern
ihres Handelns erraten läßt, ohne sie zu erklären.
Das aber macht gerade einen der spannendsten und
fesselndsten Reize seiner historischen Szenen aus.
Wir besitzen Gobineaus „ Renaissance “ seit
langem in der sehr guten Schemannschen Über-
setzung. Aber gerade dieses Werk, durch das
die ins Übermenschliche gesteigerten Kräfte und
Begierden, die atembeklemmende Größe berau-
schender Laster, die hinreißenden Schönheiten
höchsten Lebenswillens dahin-
brausen, bedarf, um wirklich
genossen zu werden, vielleicht
mehr als irgendein anderes
der sorgfältigsten und er-
lesensten Darbietung.
Das empfunden zu haben, ist
ein Verdienst von Bernhard
Jolles, der die kultivierte
Sprache des Franzosen nicht
nachzeichnete, sondern mit
feinstem Sprachgefühl über-
setzte, und des Inselverlags,
der diesem edlen Literaturer-
zeugnis einen Rahmen schaffte,
aus dem dem Leser ein Hauch
jener luxuriösen Kultur ent-
gegenweht, die in seinen Zeilen
ausgegossen ist. D em prächtigen
Buch sind überdies eine Reihe
künstlerischer Reproduktionen
beigegeben, doch würde man-
cher Leser es vielleicht freudig
begrüßt haben, wenn der
Herausgeber ihm noch ein
Verzeichnis der historischen
Namen, vielleicht sogar mit
kurzen biographischen Notizen
versehen, beigefügt hätte.
J.Ph-H.
WEIBLICHE FIQUR FRANZ LOHR
371
naissance“ nicht nur den allgemein bekannten
Baustil, oder etwa die künstlerische Produktion
jener Zeit versteht, sondern, wie es doch ge-
schehen muß, den Begriff auf den Gesamtkomplex
geistiger, gesellschaftlicher und politischer Be-
wegungen und auf das daraus resultierende Pro-
dukt eines eigentümlichen Persönlichkeits- und
Massentypus in Italien anwendet (und man tut
gut, sich bei dem Begriff „Renaissance“ auf die
italienische zu beschränken und die national ge-
färbten, weniger stürmischen Prozesse in Frank-
reich, England, Deutschland und den Niederlanden
auszuschalten), bleibt den meisten etwa die Vor-
stellung von ins Übermenschliche verzerrten
Schattenfiguren. Sie scheinen an den mit kraß-
bunten Farben unheimlicher und abenteuerlicher
Begebenheiten bemalten Leinwandhintergründen
der Zeit vorüberzuhuschen. Aus diesem Chaos
wilder und regelloser Verschlungenheiten heben
sich dann hier und da die festumrissenen Ge-
stalten eines Lionardo, Raphael, Michelangelo,
Tizian, Julius II. deutlich ab; weniger deutlich
die schon von einem leisen Anhauch des Mythos
patinierten Figuren eines Savonarola, Machiavell,
Lorenzo di Medizi, Ludovico Sforza, des Cesare und
der Lucrezia Borgia und wie sie alle heißen, deren
Namen seltsam tönend durch die Zeiten klingen.
Ihren Zusammenhang mit der Zeit aber und
diese Zeit selbst als Reaktion
auf eine asketisch - abergläu-
bisch-religiöse Knechtung des
Menschengeistes, auf eine un-
erträgliche Begrenzung durch
das Ständewesen, auf eine zur
Zersprengung reif gewordene.
Macht- und Reichtumskonzen-
tration zu deuten, wissen nicht
alle. Nicht alle wissen, daß
hier eine gewandelte, auf Frei-
heit des Individuums zielende
Weltanschauung ihren Aus-
gangspunkt genommen, daß
hier ein geistesgeschichtlicher
Prozeß eingesetzt hat, der
heute noch nicht ganz ab-
geschlossen ist.
Und doch, über keine
Epoche existiert eine Literatur,
die gerade dem Laien einen
größeren Genuß und eine voll-
wertigere Bereicherung des
Geistes gewährte, als über die
Renaissance. Denjenigen, die
weder die Zeit noch den Willen
haben, sich an Hand der er-
schöpfenden und klassischen
Darstellung des Schweizers
Jacob Burckhardt eine der
seltsamsten und grandiosesten Erscheinungsformen
menschlicher Kultur zu eigen zu machen, denen
steht immerhin Graf Gobineaus „Die Renaissance“
zur Verfügung, ein Werk, das mit genauester
Kenntnis all der verwickelten sozialen und politi-
schen Strömungen das feinste Einfühlungsvermögen
in die Anschauungswelt der Hochrenaissance und
eine der Materie entsprechende sinnberauschende
dichterische Kraft verbindet. Die Lektüre dieses
Werkes gibt daher nicht nur ein genaues Bild
der Zeit, es gewährt zugleich auch einen der
feinsten künstlerischen Genüsse.
Durch die dramatische Form rückt Gobineau
uns sowohl das Milieu, wie die Gestalten, die
in ihm wirksam sind, mit lebendiger Kraft vor
Augen; er wahrt dabei nicht nur in äußerlich-
technischer Beziehung die dramatische Form, er
weiß seine Figuren auch von innen heraus dra-
matisch zu beleben, indem er die Triebfedern
ihres Handelns erraten läßt, ohne sie zu erklären.
Das aber macht gerade einen der spannendsten und
fesselndsten Reize seiner historischen Szenen aus.
Wir besitzen Gobineaus „ Renaissance “ seit
langem in der sehr guten Schemannschen Über-
setzung. Aber gerade dieses Werk, durch das
die ins Übermenschliche gesteigerten Kräfte und
Begierden, die atembeklemmende Größe berau-
schender Laster, die hinreißenden Schönheiten
höchsten Lebenswillens dahin-
brausen, bedarf, um wirklich
genossen zu werden, vielleicht
mehr als irgendein anderes
der sorgfältigsten und er-
lesensten Darbietung.
Das empfunden zu haben, ist
ein Verdienst von Bernhard
Jolles, der die kultivierte
Sprache des Franzosen nicht
nachzeichnete, sondern mit
feinstem Sprachgefühl über-
setzte, und des Inselverlags,
der diesem edlen Literaturer-
zeugnis einen Rahmen schaffte,
aus dem dem Leser ein Hauch
jener luxuriösen Kultur ent-
gegenweht, die in seinen Zeilen
ausgegossen ist. D em prächtigen
Buch sind überdies eine Reihe
künstlerischer Reproduktionen
beigegeben, doch würde man-
cher Leser es vielleicht freudig
begrüßt haben, wenn der
Herausgeber ihm noch ein
Verzeichnis der historischen
Namen, vielleicht sogar mit
kurzen biographischen Notizen
versehen, beigefügt hätte.
J.Ph-H.
WEIBLICHE FIQUR FRANZ LOHR
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