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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lohmeyer, Julius: Alpenglühen, [1]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0027

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MODERNE KUNST.

niederplätschernder Felsbach die Wildnis mit dumpfem Rauschen füllte. Der
Professor suchte seit seinem Hiersein mit einem gewissen Raffinement solche
unbetretene Verstecke der Wildnis auf, die ihn mit dem Gefühl weltverlassener
Einsamkeit erfüllten; es verlangte seine Melancholie nach einer entsprechenden
Scenerie als Dekoration.

Er setzte sich auf einen Felsblock nieder, der wie ein Druidenaltar über die
moosbedeckte Trümmerwelt emporragte, rückte sich bequem zurecht und ent-
zündete mit Behagen eine Cigarette. Dann holte er die eben in Empfang
genommenen Briefschaften aus der offenen Seitentasche seines Jaketts hervor
und las Es waren Atelierberichte, Rechnungen, Konkurrenzausschreiben, ferner
die erwartete Berufung an die Akademie einer süddeutschen Residenzstadt, die
ihm bereits angekündigt worden war, und die er hochmütig auszuschlagen
gewillt war Endlich zog er ein zierlich geformtes, resedaduftiges Briefchen
hervor, dessen Lektüre er sich bis zuletzt aufgespart zu haben schien. Er
durchflog die grosszügigen, flüchtigen Zeilen und steckte dann das Blatt mit
einem ziemlich gleichgiltigen Ausdruck kopfschüttelnd wieder zu sich. „Das
fehlte gerade noch! Ilierherkommen! Eine echte Ueberschwänglichkeit Wandas!“

Das vornehme Gesicht mit der hochgeschwungenen Adlernase und dem
kurzgehaltenen, wohlgepflegten schwarzen Vollbart erschien durch einen ver-
drossen-miiden Ausdruck entstellt.

Den Rest seiner Cigarette in die Tiefe schleudernd, griff er nach der
Zeitung, aus deren Blättern noch ein Geschäftsbrief fiel Es war eine Gärtner-
rechnung für die Pflege des Grabes seiner Melitta, seines vor einem Jahre ver-
storbenen Lieblings Ein weicher Zug verdrängte den blasierten Gesichts-
ausdruck um die unwirsch aufgezogenen Mundwinkel. Das Grab seines Kindes
erstand in seiner rührenden Kleinheit und in lichtem Blütenschmuck vor seiner
Phantasie, Endlich schüttelte er abwehrend den Kopf und griff wieder nach der
Zeitung, in der er, zerstreut umherlesend, kaum mehr als sommermüde Bäder-
notizen und Rennbahn-Berichte zu finden meinte

Ein schwerer Regentropfen, der auf seine Hand fiel, schreckte ihn auf. Der
Himmel über der Schlucht zeigte sich ihm jetzt bereits von grauem Gewölk
umzogen. Der Professor erhob sich rasch und rüstete sich zum Heimweg. Er
musste nun doch auf den längst beabsichtigten Aufstieg verzichten, der ihn über
die Wildnis einer Trümmerhalde zu den letzten Zacken der kleinen Widder-
hörner emporführen sollte, die ihm stets so geheimnisvoll in das Thal hinab-
geleuchtet hatten

Als er die Tobelschlucht verlassen und eine freie Höhe gewonnen, sah
er bereits das Thal von den rasch emporsteigenden Wolken umzogen und
erkannte, dass er sich beeilen müsse, um vor dem niederbrechenden Unwetter
noch rechtzeitig den Schutz eines ihm bekannten Heustadels auf einer der nahen
Matten zu erreichen. Halb durchnässt gewann er endlich die verfallene Hütte
und hatte kaum im Winkel auf einer Bank einen trockenen Platz gefunden, als,
von dem jäh losbrechenden Sturzregen hineingepeitscht, ein andrer Schutz-
suchender das Schindeldach erreichte, eben jener ältere Herr, den er vorher auf
der Terrasse beobachtet hatte, ein breitschultriger, vollblütiger Sechziger, dessen
feste Haltung, schlicht niederhängender Schnurrbart und hochgerötete Gesichts-
farbe ihm, wie Ruthard jetzt meinte, eher das Ansehen eines alten Forst-
manns verliehen.

Mit einem verbindlichen Lächeln und kurzem Grussnicken, gleichmütig die
medertriefenden Regentropfen von sich abschüttelnd, trat der Leidensgenosse
in die halbverfallene Hütte und suchte sich dort einen trocknen Platz dicht
neben dem finster vor sich niederbrütenden Künstler, der, im Hinblick auf
den niederprasselnden Wasserguss, den sogleich bei ihm auftauchenden Gedanken



Flucht aufgeben musste. Er mass seinen Genossen einen Augen-

blick mit der verdrossenen Miene eines Beleidigten und erwiderte kurz und
müde seinen Gruss.

„Ist das ein Wetter, und wie plötzlich,“ begann der ältere Herr. — „Ja,


sehr plötzlich.“ — „Irre
Ilotelgenossen.“ — „Wohl
erlaube mir, mich Ihnen
tätsrat Dr. Brandt aus —“
mittelgrosse Stadt in West-

Ruthard aus Ber lin.«-„Richard

Alte, seinen Nachbar mit den grossen
aufmerksam musternd. — „Richard
tete dieser gleichmütig. — — „O,
Künstlername,“ gab der alte Herr
druck ehrerbietiger Genugthuung
„Sie besuchen das Thal zum ersten
„Sind Sie mit unserm Hotel zu-

lässig“. —■ — ,,0, das bedaure ich.
Grade, ich und meine Nichte. Ich

das dritte Jahr der Gast

früheren Zeiten besuchte ich
Bedienung ist lässig und das
erbärmlich.“ — „Dann haben

Die kleine Müller giebt sich
müssen allerdings unsere städti-
daheim lassen.“ — „Das ist nicht


Aufwerfen der Früchte.

ich nicht, sind wir

möglich“-„Ich

vorzustellen: Sani-

er nannte eine
falen. — „Professor
Ruthard?“ fragte der
klugen Falkenaugen
Ruthard,“ antwor-
ein wohlbekannter
nicht ohne den Aus-
zurück. „O, bitte —.“

Male?“ — „Ja.“-

frieden ?.“ —
Wirsindes in hohem
selbst bin nun schon
, Widderhorns“; in
alljährlich.“ — ,,Die
Essen gelegentlich
Sie Unglück gehabt',
redliche Mühe. Wir
sehen Ansprüche
immer ganz leicht.“

Schiessen
im Galoppreiten.

„Sie haben Recht; man muss dabei allerdings ziemlich radikal verfahren,
wenn man in der That in Licht und Luft und Einsamkeit der Alpen wieder
zu seinem Gott genesen will.“

Der Professor blinzelte den Rat bei dieser ungewöhnlichen Wendung wie
mit erstaunter Frage an.

„Ich gestehe“, nahm dieser wieder das Wort, „dass mich die Verpflegung
völlig befriedigt. Ich bemühe mich allerdings unsern komplizierten Lebens-
apparat nicht mit in die Alpen hinaufzuschleppen. Grundsätzlich lasse ich mir
nur die wichtigsten Briefe, nie aber Zeitungen nachschicken.“ — Offenbar
gestattete sich
der Rat diese
Bemerkung mit
einem etwas
zudringlichen

Seitenblick auf die von Papieren
strotzende Seitentasche seines Ge-
genübers.

„Ein so völliges Losreissen aus
allen gewohnten Verhältnissen gelingt
dem kulturverwöhnten Menschen
nicht immer,“ antwortete Ruthard
verstimmt bei Seite sehend.

„Dann sucht er allerdings hier
auch vergeblich die gewünschte Er-
frischung an Leib und Seele Ihre
Zeitungen und der Wildtobel, ver-
zeihen Sie, scheinen mir wenig zu
einander zu passen.“

Der derbe Alte hatte eine fatale
Art, als blicke er einem mit seinem
klugen Auge sogleich in Herz und
Nieren. Aber Ruthard versuchte
doch zu dieser Strafpredigt seines
gesprächigen Partners eine lachend
ironische Stellung zu nehmen.

„Sie scheinen ein eingefleischter Alpenfanatiker zu sein, Herr Rat.“

„Das bin ich auch“, antwortete der Alte lachend, „und ich meine allerdings,
dass Leute, die 8000 Fuss über dem Meeresspiegel Schildkrötensuppe und auf
dem Atlantischen Ozean Alpenschneehühner zu speisen wünschen, doch lieber
daheim bei ihren Fleischtöpfen bleiben sollten.“

Der Professor lachte etwas gezwungen, indem er erwiderte: „Nun, die
grossen Hotels in Interlaken und Luzern suchen solchen Wünschen jedenfalls
nachzukommen.“

„Ich wähle nur Gasthöfe,“ erwiderte der Rat bestimmt, „von denen ich weiss,
dass sie auch von Schweizer Landsleuten besucht werden, und habe die Erfahrung
gemacht, dann stets wohl aufgenommen zu sein.“

„Ich bitte Sie, bleiben Sie mir mit diesen Schweizern vom Leibe, diesen
industriellen Kuhbauern,“ gab der Professor jetzt mit entschieden ablehnender
Verdriesslichkeit zurück.

„Sie scheinen in der That recht üble Erfahrungen hier gemacht zu haben,
mein Herr," erwiderte der Alte lachend. „Jedenfalls haben Sie eben nur mit
Alpenführern, Hotelwirten und Kuhhirten als den Repräsentanten des Schweizer
Volkes zu thun gehabt, denn der Oberkellner ist schon ein internationales Gewächs.“
„Ja, ich gestehe, mir ist dieses Schweizervolk mit der gewerbsmässigen
Ausschlachtung seiner Naturreize seit langer Zeit in hohem Grade antipathisch,
vor allem, wenn sich der materielle Industrieritter noch dazu als stolzer
Nachkomme der Teils und Winkelrieds aufspielt!“ ereiferte sich jetzt der
Künstler.

„Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen Herr Professor, dass ich ganz im Gegen-
satz das kernhafte Geschlecht der Schweizer, wie es in diesem Lande in Städten
und Dörfern herumsitzt, herzlich lieb gewonnen habe. Allerdings sind sie nicht
dafür verantwortlich zu machen, dass der norddeutsche Reisende sich bemüssigt
fühlt, an einen jeden von ihnen das mitgebrachte Schillersche Schweizerideal
anzulegen Sie können den Schweizern doch aber auch ihren Stolz auf ihre
Helden von Moorgarten und Sempach ebensowenig verdenken, wie uns unsere
Begeisterung für unsere Kämpfer von 1813 und 70.“

„Ich bitte Sie! Alle jene hochgerühmten Freiheitskämpfe der Schweizer
zusammengenommen, führten noch nicht ein Zehntel der Truppen ins Feld,
wie eine einzige Schlacht im deutsch-französischen Kriege.“

„Wir leben eben in anderen Zeiten, und Schiller —“

„O, der arme Schiller! Ja, es ist allerdings höchst charakteristisch, wie sich die
Schweizer auch mit ihrem grossen Freiheitsdichter abgefunden haben. Sie hätten
ruhig den Montblanc nach dem Sänger taufen können, dem sie vor allem ihre
Glorie in der ganzen civilisierten Welt verdanken. Aber sie haben sich billig
abgefunden, sie haben einen massigen Felsblock unterhalb des Rütli dem un-
sterblichen Namen gewidmet. Der echte Hotelierpatriotismus!“

Das Gespräch schien dem Rat jetzt in eine Tonart zu verfallen, für die er
die Resonanz verweigerte. Das Blut stieg ihm heiss zu Kopfe. Er fühlte, dass
ihn der wohl von Bewunderung und Triumphen verwöhnte Grossstädter mit

XV. 4
 
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