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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lohmeyer, Julius: Alpenglühen, [3]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0082

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3*

M,


£-

lpenglühen.

Roman von Julius Lohmeyer.

[Fortsetzung.] --

on dem kleinen Kirchhof her, der das hölzerne Bergkirchlein umgiebt,
schallte eben ein plärrender Gesang ungeschulter Kinderstimmen
herüber. Wenige Landleute, Männer und Frauen und eine Schar
von Schulkindern in groben Sonntagskleidern umstanden einen mittelgrossen
Kindersarg, den der Priester in seinem weissen Amtsgewande mit erhobener
Rechten einsegnete, und der gleich darauf lautlos in das offene Gräblein
hinabgelassen wurde. Dann hörte man dumpfen Schollenfall auf den Sarg
hinabpoltern.

Edith und Ruthard hatten einen Augenblick in stiller Anteilnahme hinüber-
geblickt, während der Rat, der an der verfallenen Mauer eben eine seltenere
Flechtenvegetation entdeckt hatte, von diesem Funde ganz in Anspruch ge-
nommen war.

Der Aufstieg wurde nun steiler. Ruthard schritt, wie in trübe Erinnerungen
versunken, neben Edith her. Nach einer Weile nahm diese, die seine Gedanken
mitfühlend erriet, sanft das Wort: „Sagen Sie mir etwas von Ihrem armen
Kinde, Herr Professor. Wie lange ist es, dass Sie es hergeben mussten?“

„Es sind kaum elf Monate darüber hingegangen.“

„Und die Kleine litt viel?“ frug Edith, die Antwort Ruthards im voraus
mitempfindend von seinen Lippen lesend.

„Sehr viel. Zwölf Operationen hat das Kind binnen drei Leidensjahren
bestehen müssen.“

„Aber sie trug alle Qualen mit Engelsgeduld, mir zu Liebe“, fuhr Ruthard,
dem die Teilnahme der beiden wohlthat, mit Zärtlichkeit fort.

„Sie konnte mich nicht traurig sehen“, fügte er mit einem Aufblick leuch-
tenden Vaterstolzes hinzu. „Ich war ihr Abgott und sie der meinige. Sie hatte
mir alle Geselligkeit abgewöhnt.“

„Konnte sie sich denn dauernd selbst beschäftigen?“ fragte der Rat.

„Sobald sie sich einigermaassen kräftiger fühlte, wohl. Sie las dann. Sie
hat in ihrer Einsamkeit unglaublich viel Gutes gelesen, und war überhaupt ein
selten begabtes Kind. Noch heute staune ich oft, wenn ich ihre kleinen ge-
legentlichen Briefe und Versehen wieder zur Hand nehme.“

Edith wandte keinen Blick von dem Sprecher, und ihre grossen braunen
Augen standen voller Thränen. Ihr Mitgefühl durchzitterte ihn erwärmend, und
voll beglückten Eifers sprach er immer weiter.

„Wir waren wie Freunde. In der That, ich war ihr Licht, und sie mein
Sonnenschein. Meine Freunde verehrten Melitta wie eine Heilige. In der Säulen-
veranda meiner Villa, wo ihr Bettelten an warmen Tagen stand, wurde es nach-
mittags von Besuchern selten leer. ,In der Liebe zu Dir ist Dein Kind um Jahre
voraus gereift1, sagte mir noch kürzlich mein Freund, ihr treuer Arzt.“

Edith kämpfte mit sich. Es war ihr, als müsse sie Ruthard ihre Hand be-
gütigend auf den Arm legen. — „Und das alles mussten Sie hingeben!“

Ruthard warf wie in trotziger Ermannung seinen Kopf zurück. „Nun, das
ist vorüber. Mein Licht ist mir verloschen, und es ist schliesslich gut so. Den
Schmerz löst die Zeit, so soll es ja doch wohl sein, aber die brennende Frage:

,Warum musste es so geschehen? Warum musste diese seltene Lebensblüte erst
zum Licht erwachen, wenn sie dann doch so grausam zertreten werden sollte?
Wie durften einem Engelsgeschöpf wie diesem solche Qualen zugemutet werden?1
bleibt mir als bitterer Nachgeschmack meiner Tage zurück.“

Edith blieb einen Augenblick erschüttert stehen.

„Armer, lieber Herr“, sagte der Rat teilnehmend und ergriff Ruthards Hand.
„Ich verstehe Ihr Vaterherz. Aber wen klagen Sie an?“

„Ich klage nicht an, oder wenn doch, wen sonst als das brutale Gesetz, als
das Leben, als den Schöpfer? Wozu uns ins Dasein rufen, wenn es nur zur
Qual geschehen soll? Wir haben das Leben nicht von ihm erbeten.“

Der Rat wiegte abwehrend und nicht ohne Verstimmung sein weisses Haupt.
„Sie sind ungerecht!“

„Nun, Onkel, solche bittere Frage kann man in diesem Falle doch wohl ver-
stehen“, warf Edith bewegt dazwischen.

„Gewiss. Aber die Frage selbst beklage ich. Oder sagen Sie, wollten Sie
Ihrem Schöpfer das von Ihnen so hart geschmähte Leben etwa zurückgeben?
Ihr Leben? Gewiss nicht. Sie müssen zugeben, dass es trotz alledem doch Ihr
bester, höchster Schatz ist, freilich ein Schatz oder ein Nichts, je nachdem wir
aus diesem Gottesgeschenk etwas zu machen verstehen. Sie haben Ihre Kunst,
Ihre Gaben, eine Welt vor Hunderttausenden voraus. Und Hunderttausende er-
leben, was Ihnen geschehen musste, aber allen diesen wurde nicht solcher Trost
verliehen wie Ihnen, Kräfte, die Ihnen Erlösung und Erhebung geben sollten.“
„Nein, nein, in meiner Kunst vermochte ich keinen Trost zu finden. Und
glauben Sie mir, jede Werkstatt irgendwelchen Künstlers ist im Grunde doch
nur eine Folterkammer.“

„Aber ich denke mir, auch ein Tempel höchster Wonne“, entgegnete Edith.
„Mindestens doch eine Stätte des Sichvergessens und der Erhebung“, setzte
der Rat hinzu.

[Nachdruck verboten.]

„Wenn uns die Schwungfedern vom Leben nicht vorher zerbrochen wären.
Denken Sie an Michelangelos Künstlerlos, um ein Grösstes mit Kleinstem zu
vergleichen. Mehr als wir alle hat dieser grösste Meister gelitten.“

„Und doch, welche Erhebung, welche Verklärung tritt uns in seinem späteren
Leben, seinen Sonetten, seinen Schöpfungen entgegen“, erwiderte der Rat. „Und
nun bedenken Sie, wie unsäglich sich unsere Weltanschauung der seinigen
gegenüber erhöht, das Weltganze, die Erkenntnis, die Harmonie des Alls un-
endlich erweitert hat. Es ist mir stets unverständlich gewesen, wie ein Mann
von grossen Erkenntnissen und Gaben nicht zu Demut und Dank gelangen
konnte. Aber freilich, jeder muss \vie Jakob selbst seinen Gott bestehen. Auch
ich bin einen schweren Lebensweg gegangen.“

„Ja wahrhaftig, Onkel, das bist Du.“

Ruthard schwieg ernst und fast ungeduldig.

„Aber ich habe mich an das Wort Carlyles gehalten“, fügte der Rat beinahe
strenge hinzu. „Nicht verzweifeln, sondern arbeiten.“

„Ich sagte Ihnen schon“ — gab Ruthard kühl zurück, „mir ist es nie ge-
lungen, in der Arbeit solche Erlösung zu finden.“

„Nun, vergeben Sie.“ Das Gesicht des Rates hatte sich gerötet. „Nach dem,
was Sie uns vorher von Ihrer Arbeit berichteten, kann ich es wohl verständlich
finden. Der Preis träuft uns eben erst aus dem Blutschweiss höchster Kraft-
anstrengung, und weniger als sein Bestes zu leisten sollte sich kein Edler gestatten.“
Ruthard blieb einen Augenblick stehen. Er maass den Mann, der sich unter-
fangen konnte, ihm solche Mahnungen und Lehren erteilen zu wollen. Edith
kannte des Onkels cholerisch-verweisende Art, dem jede Art von blasiertem
Pessimismus geradezu ein Greuel war, und sah jetzt, erschreckt von dem Fort-
gange des Gespräches, von einem zum andern.

„Ich gestehe, dass ich solche Mahnung doch nur einem älteren Herrn ge-
statten möchte, von dessen Wohlwollen ich fest überzeugt bin“, gab Ruthard
nicht ohne Gereiztheit zurück. „Ein jeder hat sich seine Welt zurechtgebaut.“
Ein flehend-beschwörender Blick Ediths traf ihn, und diese ihm gewährte
Vertraulichkeit that ihm wohl.

„Vergeben Sie“, nahm der Rat fast entschuldigend das Wort, „mein lieber
Herr Professor; es ist wohl die wenig erwünschte Art des Alters, das Beste
seines Lebensschatzes auch anderen nicht vorzuenthalten. Ich meine, der einzige
Unterschied in unserer beider Lebensauffassung besteht doch darin, dass Sie
Ansprüche an Gott und Welt machen, und ich der Meinung bin, alles Gott und
Welt allein zu schulden.“

„Nun, ich meine“, warf Ruthard beruhigter ein, „dass unsere Philosophie
doch mehr der Ausfluss unseres Temperamentes als unseres Intellekts ist.“

„Auch das will ich Ihnen in gewissem Maasse zugeben; aber schliesslich
wollen wir doch an das Wort Goethes denken: dass die beste und höchste
Eigenschaft jedes Menschen eben die Ehrfurcht ist.“

„Nun, Goethe schuf den Prometheus und den ersten Teil des Faust auch
vor seinem lendenlahmen zweiten, bemerkt, ich glaube Nietzsche sehr richtig.“
„Ja, der reife Goethe hat eben auch erst den vollen Untergrund des Lebens
in einer tiefen Allbegeisterung und damit die demütige Unterordnung gefunden“,
ereiferte sich der Rat. „Und schliesslich muss jeder Mensch seinen törichten
Pessimismus doch los werden — und was Nietzsche betrifft —“

Edith sah entsetzt zu Ruthard hinüber. Sie kannte des Onkels Meinung
über diesen „Verderber unserer Jugend“, wie er ihn stets erregt nannte.

„Gut denn“, unterbrach, sich bezwingend, der Professor, wenn auch mit
einem Anfluge von Ironie, das gefährliche Gespräch, „so mag es ja sein, dass
auch ich noch zu ähnlichen Anschauungen reife und mir Goethe für Schopen-
hauer eintausche.“

Der Professor warf das Wort wie verloren hin und nahm von Edith einen
Blick des Dankes dafür in Empfang. Sie war glücklich, das Gespräch von ihm
in unbedenklichere Bahnen gelenkt zu sehen, denn Nietzsches und Schopenhauers
pessimistische Lehren wirkten nun einmal auf den Onkel wie ein rotes Tuch.

„Aber Sie haben an mich auch als den Künstler appelliert, Herr Rat“, fuhr
Ruthard freimütig fort, „und da bin ich ehrlich genug, Ihnen zuzugestehen, dass
ich allerdings mein Bestes noch nicht eingelöst habe.“

Er blieb vor dem Alten stehen, und sein Wesen schien sich bei seinen
Worten mit auf blitzendem Stolz emporzurichten.

„Ja, ich will Ihnen offen gestehen, dass ich nie ein grösseres Verlangen
empfunden habe, zu eben diesem Besten noch zu gelangen, als jetzt vor Ihnen.“
Sein Blick suchte Edith, die ihm mit hellem Aufleuchten ihrer Augen dankte.
„Ja, mein verehrter Herr Professor, dessen bin ich gewiss, Sie werden noch

genesen, ganz gewiss! Sie werden es.“-

Als sie die ersten Hütten des Bergdorfes Enemetten, das sich verstreut an
der Berglehne hinzieht, erreicht hatten, klapperte eben das Mittagsglöcklein von
dem roten Rohbau des Schulhauses herab, das mitten in dem sanft ansteigenden
Mattenhang des Thals liegt. Eine dichte Schar blondhaariger, grösserer und
 
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