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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Tanera, Karl: Ein Zugvogel: Reise-Plauderei
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0597

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274

MODERNE KUNST.

Die Maria-Theresienstrasse mit der Annasäule in Innsbruck.


uqüoqel.

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Reise-Plauderei von Tanera.

ankratius, Servatius und Bonifaz sind vorbei, die Sonne brennt
schon tüchtig und die Luft in der Arbeitsstube und im Atelier
wird manchmal bereits drückend. Da regt es sich in der Brust
des Städters mächtig, das alljährliche Sehnen nach Land-, See- oder
Bergluft kehrt wieder, es wächst und breitet sich aus, er kann nicht wider-
stehen, er sinnt und trachtet, und nur ein Ziel steht ihm vor Augen: fort,
fort aus der dumpfen Stube, hinaus in Gottes freie Natur.

Und wenn die ersten weg sind, dann hält er es gar nicht mehr aus,
dann muss er folgen, sonst wäre er ja totunglücklich der Vergnügungs-
bummler, der Badereisende, der Sommerfrischler, der Bergkraxler, kurz
der menschliche Zugvogel.

Wohin?

In seinem Schaukelstuhl sass der schon etwas ältliche Major a. D.,
hartgesottene Junggeselle und glückliche Besitzer eines stattlichen Ein-
kommens Theodor Wächter. Er rauchte seine Cigarette, wiegte sich hin
und her und sann nach: Wohin?

Da stiegen Bilder vergangener Jahre vor ihm auf: „Die Insel Wight!
Das war eine schöne Zeit. Offizier der deutschen Occupationsarmee in
Frankreich, Geld wie Heu, und 45 Tage Urlaub nach England, angeblich
zur Uebung in der englischen Sprache. Nun wahrhaftig, die Sprache
habe ich gelernt, besser und schneller, als ich es vorher geahnt. Sie hat
mir in den seligen Wochen mehr gelehrt, als ein Pädagoge in Jahren
fertig gebracht hätte. Mary, damals meine Mary! Sie war eigentlich gar
keine Engländerin. Ihre schönsten Eigenschaften hatte sie von ihrer echt
deutschen Mutter. Aber der Sinn für frischen Sport, für reiten, rudern,

[Nachdruck verboten.]

klettern in den Bergen, das war englisches Erbteil. Welche Lust, wenn
wir so allein zwischen den Kreidefelsen herumwanderten, über Blöcke
stiegen und uns durch die engsten Schluchten mühten! Ihr silberhelles
Lachen, ihre Freude, wenn ich ihr kaum nachkam! Ja, das war eine
schöne Zeit! Und dann diese tückische Krankheit und ihr schneller Tod!
Ich will nicht mehr daran denken. Aber auf die Insel Wight gehe ich
nicht mehr trotz ihrer herrlichen Vegetation, ihrer wunderbaren Wald-
wege, ihrer wildromantischen Felspartien. Gerade die letzteren kämen
mir jetzt doch nüchtern, öde, einsam vor, sehr einsam.“ Er erhob sich,
nahm eine neue Cigarette, zündete sie an, setzte sich wieder in seinen
Schaukelstuhl und blickte sinnend in den bläulichen Rauch.

„Dann kamen die Jahre der strengen Arbeit. Kriegsakademie und
Generalstab. Wie wohl thaten mir in dieser Zeit meine Urlaubsreisen in
die Alpenwelt! Es ist etwas Herrliches, als junger, kräftiger Mensch mit
Rucksack und Stock, gesund und frisch durch die Berge, durch die
majestätischen Alpen zu pilgern. Wie ich damals zu Fuss von Reichen-
hall durch die Ramsau nach Berchtesgaden wanderte, wie ich den Königs-
see zum ersten Male sah, da glaubte ich, es gäbe nichts Wunderbareres
auf der Welt. Und wahrhaftig, einen so reinen, so ungetrübten Genuss
der schönsten Natur habe ich nie mehr genossen als in jenen Jahren.

Als ich von Tegernsee zum Achensee und über Tenbach nach
Innsbruck hinabstieg, da dünkte ich mich der glücklichste Mensch auf der
Welt. Und fast noch zauberischer war der Marsch vom Malchensee über
den Scharnitzpass und den Zirlerberg nach dem Innthal hinab. Aber
todmüde kam ich damals ins Innsbruck an. Eine schöne Stadt! Wie
 
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