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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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London bei einfallendem Nebel
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0384

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178

MODERNE KUNST.

„Es wurde sieben — acht Uhr — ich sah fort und fort nach der Uhr —
Elinor that schon fast beleidigt, weil ich in ihrer Gegenwart überhaupt an die
Flucht der Stunden dachte — da endlich meldete die Jungfer: ein Paketträger
sei da und frage nach mir.

Ich sprang sofort auf und ging ins Vorzimmer, Elinor mir nach.

„Richtig, ein Kistchen!“

„Lassen Sie von Jean die Nägel aus dem Deckel ziehen und tragen Sie es
dann ins Speisezimmer, das gnädige Fräulein wird es selbst auspacken'1 — rief
ich der Jungfer zu, ohne zu ahnen, dass ich mit dieser Bestimmung mein
Schicksal besiegelte.

Elinor sah mich etwas erstaunt an, aber ihre lebhafte Phantasie hatte ihr
die Sache sofort erklärlich erscheinen lassen.

„Mein Süsser, Lieber hat mir etwas Schönes verehrt“ — rief sie und setzte
mit ihrer Lebhaftigkeit die ganze Gesellschaft in Bewegung. Sie ergriff meine
Idände und zog mich im Tempo di ballo durchs Zimmer.

Die frische Lustigkeit Elinors riss alle mit fort; Papa Schwartenbeck lachte
und alle Gäste kamen neugierig herbei.

Die Jungfer setzte einen kleinen Tisch vor Elinor hin und das Kistchen darauf.

Ich hatte mich etwas nach dem Hintergründe zurückgezogen, wo ich Elinors
Antlitz beobachten konnte. Der klare Schein der Gas-Krone fiel auf ihre Ge-
stalt. Sie sah so überglücklich aus, dass ich mir vornahm, jeden Zug ihres
Gesichtes fest in mein Gedächtnis einzuprägen, denn ich wollte sie in dieser
Stimmung malen.

Es entstand eine Pause, in der alle in grösster Spannung nach dem Kistchen
blickten.

Ich sah, wie Elinor den Deckel abhob, wie sie vorsichtig das Deckpapier
auf die Seite legte und wartete auf ihr helles erfreutes Lachen — aber ihr
süsses Gesicht verzog sich plötzlich zu starrem Ausdruck; sie blickte lange in
das Kistchen und sah sich dann nach mir um — staunend — fragend — sprachlos.
Dann schauten alle zu mir herüber; stumme Frage lag auf jedem Gesichte. Ich
ging herzu, sah ebenfalls in die mysteriöse Kiste, und — oh — ich hätte bersten
können in wilder Verzweiflung! Nicht florentinische Blumen lachten mir ent-
gegen: sechs durcheinandergerüttelte Windbeutel lagen auf dem Boden des
Kästchens. Gnädigste, können Sie sich vorstellen, wie sechs Windbeutel aussehen,
wenn sie von der Post einen Tag lang hin und her gerüttelt worden sind?“

„Schaudervoll“ — rief Frau Asta in vollster Ueberzeugung.

„Pfui Teufel — es war ein entsetzlicher Augenblick“ — fuhr Fritz Staude
fort, „ich ahnte den Zusammenhang natürlich sofort: die beleidigte Probiermam-
sell hatte mein Präsent zurückgeschickt.“

„Aber Bester, was thaten Sie in dieser gefahrdrohenden Situation?“ -

„Oh, ich kam nicht aus der Ruhe. Elinor sollte von der Existenz der
Windbeutelhexe natürlich nichts erfahren. Ich suchte den Fall auf eine ganz
harmlose Verwechselung hinaus zu spielen und nahm eine gleichgültige Miene an.

Wissen Sie, werteste Frau Kollegin, wenn der Mensch in die grösste Not
kommt, so verdoppeln sich oft auf Augenblicke seine Geisteskräfte: ich sah in
diesem Momente die entsetzliche Gefahr heraufsteigen, in der mein Liebesglück
schwebte: Elinor würde mir nie die Affaire mit der Probiermamsell verzeihen.

Ich bedauerte lebhaft, dass die italienischen Blumen, die ich bestellt habe,

nicht angekommen seien, murmelte etwas von einem „fatalen Vorkommnis“ und
wollte das Kistchen aus dem Zimmer tragen.

Da sprang Elinor herzu; ihre Augen funkelten; ihre Hand zitterte; ihre ganze
Gestalt bebte, wie ein junger Blütenba tm, den ein wilder Frühlingssturm erfasst hat.

Sie zog den Deckel vom Kistchen, raschelte ein blaues Couvert heraus und
riss es auf.

Ichy stand versteinert.

Elinors Blicke flogen über die wenigen Zeilen; ihre Augen schossen Blitze.
Plötzlich lachte sie wild auf, zerknitterte in maassloser Wut den Brief und
warf ihn mir vor die Füsse:

„Verworfener Lügner, elender! Ich mag Dich nie Wiedersehen!“

Und dann stürzte sie aus dem Zimmer wie eine Rachegöttin in der antiken
Tragödie. Vater Schwartenbeck hob den Brief auf und las:

„Sehr geehrter Herr! Ihre Abschiedsgrüsse kann ich entbehren und Ihre Wind-
beutel schicke ich Ihnen anbei zurück — da Sie der Bräutigam einer Anderen sind.
Schämen Sie sich! Fanny Kardorf.“

Der Alte wollte auf brausen; ich schnitt ihm das Wort ab:

„Es ist ein unglückliches Missverständnis, das sich morgen leicht aufklären
wird; für heute ist es wohl das Beste, wenn ich gehe.“

„Thun Sie das,“ entgegnete er dumpf.

„Tch verbeugte mich, und die Portieren im Hause meiner Braut schlugen das
letztemal hinter mir zusammen. Meine Sinne waren verwirrt, mein Blut bald
erstarrt, bald raste es wie ein heisser Strom durch meine Adern.“

„Armer Freund“, rief Frau Asta, „und versuchten Sie nicht, die Angelegen-
heit aufzuklären? Im Grunde genommen war die Sache mit der Probiermamsell
doch weiter nichts, als eine etwas unvorsichtig verfolgte Künstlerlaune.“

„Am andern Morgen brachte mir Jean die echte florentinische Sendung:
rose, garofani e narcissi und einen Brief vom alten Schwartenbeck dazu:

„Mein Herr! Nach dem Vorkommnis von gestern Abend betrachte ich Ihre
Verlobung mit meiner Tochter für gelöst. Justus Schwartenbeck.

Ich wandelte einige Tage wie ein Blödsinniger umher, dann raffte ich all
das Meinige zusammen: an die 350 Mark und fuhr über den Brenner.“

„Und Elinor haben Sie nie wiedergesehen?“

„Nie. Ich schrieb aus Mailand an sie — und dann später noch zweimal —“
„Und?“

„Die Briefe kamen unerbrochen zurück.“

„Wäre es nicht jetzt noch Zeit —“

„Liebste Freundin, Elinor ist verheiratet, sehr glücklich verheiratet.“

„Oh - -“

„Das ist die Geschichte meiner Jugendliebe. Nun werden Sie verstehen,
dass mir auch die köstlichsten Windbeutel eine entsetzliche Sache sind. Vielleicht
gelingt es Ihnen, mir wieder Geschmack an diesen Süssigkeiten abzugewinnenV“
— setzte Fritz Staude ihr tief in die Augen sehend hinzu.

Frau Asta schwieg kurze Zeit und sagte dann — war es Spott, war es
Liebenswürdigkeit? — man vermochte es nicht ganz zu unterscheiden:

„Wenn Sie sich das Interesse für schöne Probiermamsells abgewöhnen
könnten — vielleicht!“

Fritz Staude lächelte und zog ihre schlanke, zarte Hand an die Lippen.

Hondon bei einfallendem Hebel.

'


Zalyer hätte nicht schon vom Londoner Nebel gehört! Aber wer London
(2zvv> nicht selbst im Nebel gesehen hat, kann sich kaum eine Vorstellung von
einem „dicken Fog“ machen, wie die Engländer diese wenig anmutige Londoner
Specialität nennen. C. H. Kuechler hat mit seinem Bilde eine Anschauung von
diesem fürchterlichen Uebel der Hauptstadt des Britenreiches gegeben.

Der Londoner Nebel hat durch die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er em-
pfindliche Kehlen und reizbare Nasen behandelt, einen Weltruf erlangt. Nicht
wenige Schwächliche und Asthmatische werden von ihm während der Monate
Oktober bis März aus dem Leben geschafft. Der schreckliche Geselle ist nichts
anderes als ein abscheuliches Gemisch von Kohlenrauch und Wasserdampf.
Während der Wintermonate ist es in London stets mehr oder minder nebelig,
aber die eigentlich berüchtigten Nebel kommen im Jahre nur einigemale vor.
Wer an einem solchen Morgen die Augen auf schlägt und zum Fenster hinaus-
schaut, was sieht er da? Nichts. Wo gestern noch Häuser' standen, ist nichts
mehr — absolut nichts zu sehen. Es ist so dunkel, dass überall auf Strassen
und in allen Gebäuden Laternen und Lampen den ganzen Tag über brennen.
Wer genötigt ist auszugehen, kann in die eigenartige Gefahr kommen, sich den
Hut oder auch den Kopf an einem Laternennfahl zu zerschlagen, von dem man
nichts sieht, obgleich auf ihm eine Leuchte flammt, deren Strahlen aber nicht
bis zur Erde dringen. Sehr schlimm sind die Briefträger, Fleischerbuben, Fiaker-
und Omnibuskutscher daran, die den ganzen Tag durch den Nebel zu laufen
haben oder ihr Gespann durchlenken müssen. Mit Blendlaternen ausgerüstet
gehen Polizisten umher, um ängstliche Passanten über die Strassenkreuzungen
zu führen. Die Wagenpferde werden unruhig, obgleich sie sonst bekanntlich
auch in dunkler Nacht ihren Weg finden; der schreckliche Nebel legt sich auch

#

[Nachdruck verboten.]

ihnen auf die Nerven. Strassenjungen verdienen sich manchen Shilling dadurch,
dass sie Fussgängeru und Kutschern schreiend den Weg zeigen. Sie tragen
Fackeln, die nicht selten plötzlich verlöschen, angeblich natürlich ohne Zuthun
ihres Trägers; der Junge verschwindet im Nebel und beginnt sein Geschäft
anderswo aufs Neue. Der Wagen- und Eisenbahn-Verkehr lässt sich nicht
sonderlich einschränken, obgleich man das immer auf mehrfache Art versucht.
Früher gaben die Bahnzüge sogenannte Nebelsignale ab, die in Böllerschüssen
bestanden, neuerdings hat man die Sirene und das Nebelhorn auch dienstbar zu
machen versucht und damit natürlich den Strassenlärm um eine bemerkenswerte,
wenn auch nicht sehr erfreuliche Nuance bereichert.

Eine besondere Kalamität ist der Nebel aber erst dann, wenn irgend eine
grosse Festlichkeit veranstaltet worden ist, die sich auf den Strassen abspielen
soll. Die Königin Viktoria hatte, wie der englische Volksmund erzählt, sprich-
wörtliches Wetterglück, darum nennt man in England schönes Wetter „Queens
weather“. Natürlich giebt es bei solchem angeblich keinen Nebel.

Bei Truppeneinzügen und Paraden hat aber doch der „Fog“ manchmal
schon einen ganz gehörig dicken Strich unter die Rechnung gezogen. Im Bei-
sein ungeheurer Menschenmassen, die man aber nicht sieht, sondern nur schreien
hört, zieht dann wohl eine Militärkolonne vorüber, von der die Menge aber
ebenfalls nichts sieht, sondern nur den Schritt und das Begrüssungsgeschrei hört.

Charles Dickens und Andersen haben sich von ihren poetischen Empfinden
zu poetischer Schilderung des Nebels leiten lassen, aber viel Glück haben sie
damit nicht gehabt, denn die Mit- und Nachwelt hat sich zu poetischer Auffassung
des Nebels nicht aufschwingen können, sondern hält ihn für abscheulich, grauen-
haft, entsetzlich. A. v. Ii
 
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