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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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E. Thiel: Das Besingen der Phonographen-Walzen.

esingen 3er

#is jetzt waren berühmte Sänger und andere Bühnenleute eifrigst
darauf bedacht, durch gute Photographieen ihr schönes Ich dem
Publikum bekannt zu macheft; man konnte selten das Photographie-Album
einer jungen Dame von Welt aufschlagen, ohne darin ein Konterfei jenes
Tenoristen zu erblicken, der nun gerade in dieser Saison der erklärte
Gott ihres musikalischen Herzens war. Das wird anders werden. Dem-
nächst lässt sich die Schöne ihren Liebling nicht mehr photographieren,
nein, nun wird seine Stimme phonographiert. Sie braucht sich nur einen
entsprechend eingerichteten Phonographen-Apparat zu kaufen und kann
sich dann mit dem schönen Liede: „Gute Nacht, du mein herziges Kind!“
in den Schlaf singen lassen. Die holde Schläferin kann ihre Träume
unterdessen noch weiter spinnen, sie kann sich ihr Ideal als liebegirrenden
Seladon im jasminduftenden Garten erträumen, oder was ihr sonst behagt.

Erhabene Gassenhauer, die ihren Weg durch die Welt nehmen,
brauchen nicht erst zu warten, bis ein durchs Land pilgernder Leier-
kastenonkel seine Kurbel dreht und so die musikalischen Offenbarungen
der Reichshauptstadt in der Provinz bekannt macht — das ist -nicht
mehr nötig. Heutigen Tages giebt es Musikexportgeschäfte, in welchen
zwar die Musik nicht auf Flaschen gezogen wird — bis zur flüssigen
Musik hat cs die moderne Technik noch nicht gebracht — aber ver-
sandbare Musik giebt es doch, und das sind eben die Phonographen-
walzen, die man per Nummer und in verschiedenem Genre beziehen kann.

Begeben wir uns einmal in eine Musikfabrik, in der das Besingen der
Phonographen-Walzen vorgenommen wird. Wer durch einen der wenig
reichsresidenzlich aussehenden Höfe eines grossen Hauses im Centrum
Berlins schreitet, hört plötzlich aus einem fabrikartigen Nebengebäude

[Nachdruck verboten.]

prachtvollen Gesang ertönen. Wir spitzen die Ohren. Was ist das? Hat
die Hofoper hier eine Filiale? Nun das ist eben die Walzenfabrik. Wir
steigen hinauf und treten ein. Die Herren sind gerade bei der Arbeit.
Der berühmte „Bimmelbolle“, einer der neuesten Wundergesänge, welche
am grünen Strand der Spree ihre Geburtsstätte hatten, wird der Wachs-
walze anvertraut. Hinter dem Pianino sitzt der Klaviermensch, der
vormittags in die Musikfabrik geht und abends in irgend einer Kneipe
die edle Frau Musika malträtiert. Auf einem Gestelle stehen fünf Phono-
graphen, deren Walzen durch einen kleinen Motor gedreht werden, der
durch die am Boden stehenden Akkumulatoren gespeist wird. Zwei
Herren sind im Begriff, den „Bimmelbolle“ in die Schalltrichter zu singen;
der eine, der zugleich die „Bimmel“ bedient, singt die welterschütternde
Melodie, der andere, den man etwas weiter zurück placiert hat, vertritt
das Publikum. Er fügt das Bravorufen und Händeklatschen dem Gesänge
an, das beim Abdrehen des Phonographen allen Zuhörern dann grossen
Spass zu machen pflegt. Auf einem nebenstehenden Stuhle sehen wir
eine Anzahl schon präparierter Walzen, die sorgfältig in Hülsen verpackt
sind. Einige Damen und Herren, unter welchen wir einen bekannten
Berliner Hofopernsänger wieder erkennen, treten eben ein. Sie wollen
eine zweite Nummer exekutieren. Man hat es schon weit gebracht —
Duette, Terzette, ganze Opernensembles werden in die Trichter ge-
sungen, ja sogar Militärkapellen haben schon ihre Weisen mit allen
Trompeten, Tuben, Tuten und Posaunen der Wachswalze eingedrückt. —
Ja, Bauer, so was giebts in der Welt! — Wir schreiten lächelnd die enge
Treppe wieder hinab, mit dem Bewusstsein, der modernen Kultur wieder
einmal an den Puls gefühlt zu haben. A. v. R.
 
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