MODERNE KUNST.
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bei einer staatlichen Veranstaltung, bei einem Fest, am meisten auf irgend einem
Friedhof des Westens, wenn wir einen der unserigen zur letzten Ruhestatt ge-
leiten und uns fragen müssen: Wer wird nun der nächste von uns sein?“
„Grausig, o diese allesverschlingende Welt,“ flüsterte sie erschauernd.
Der Professor war immer wärmer und gesprächiger geworden, je länger er
dem herrlichen Mädchen in die unschuldigen, lachenden Augen voll lebens-
freudiger Begeisterung blickte.
„O, ein Jahr nur möchte ich in Berlin leben,“ rief sie jetzt wieder, wie
innerlich befreit, aus, „ein Jahr malen, singen, sehen, hören, mich ganz voll
saugen von Kunst und Leben, dann wollte ich gern wieder in unser stilles Nest-
chen zurückkehren. Aber von all dem Grossen und Herrlichen immer nur
lesen und hören und nie etwas sehen, das ist doch wirklich gar zu hart für
uns arme Provinzmenschen. Ein wie angeregtes Leben müssen Sie führen!“
rief sie von einer stets steigenden Wissbegier erhitzt.
„„Ein recht abgeschlossenes, arbeitsames, mein Fräulein. Man lebt nirgends
freier und einsamer — wenn man will — als in der Grossstadt.“
„Aber herrlich muss es doch sein, so inmitten all der Kreise des Schaffens
und Wirkens zu stehen?“
„Man hat sich zu sehr daran gewöhnt, als dass man es selbst noch wissen sollte.“
„O, Sie glauben nicht, wie unsereins sich nach solchen Berührungen gerade
mit den Schaffenden sehnt, an deren Werken sich die ganze Nation erbaut.
Man weiss ja mit seiner kleinstädtischen Begeisterung rein gar nichts anzufangen.“
Ruthard lächelte überlegen, aber er konnte sich doch der hinreissenden
Einwirkung dieses naiven Enthusiasmus nicht entziehen, nicht kalt bleiben vor
diesem andächtigen Weltaufblick eines strahlenden jungen Wesens, das voll
seeliger Erwartung vor allem Grossen und Herrlichen des Lebens, der Kunst,
der Welt zu stehen schien.
„Ich möchte Ihnen, mein Fräulein, Ihre schönen Illusionen nicht zerstören,“
begann er jetzt wieder, „aber ich fürchte, wenn Sie in dieses Künstlertreiben
einen Einblick gewinnen sollten, Sie doch erschreckend enttäuscht sein möchten.
Denn das Leben handelt uns allen doch allzuviel von jenen ersten starken Im-
pulsen ab, deren Sie sich noch erfreuen. In all dem Streit der Interessen,
Neigungen, Egoismen bleiben schliesslich praktische Entschliessungen, Missgunst,
Dünkel, Dummheit doch immer das Ausschlaggebende, und weisen uns in einen
Leiergang der Gewohnheit und der Alltagsarbeit.“
„Da fröstelt einem ja ordentlich, Sie übertreiben offenbar, Herr Professor!
Ich habe doch immer gemeint, dass der Künstler, der Dichter, der das Schöne,
das Grosse täglich hervorbringt, und vor uns so als ein Stück lebendiger Ewig-
keit herwandelt, doch auch im Leben nur gross und hoch gestimmt sein und
handeln könnte.“
Ruthard schüttelte gutmütig lächelnd den Kopf, allzusehr sich bewusst des
schnöden Widerspruches der Wirklichkeit mit diesem idealen Anspruch der
jungen grossfühlenden Seele. Er fand Edith gegenüber aber nicht die Stimmung
zu einem satirischen Hohnwort, das ihm sonst so leicht auf die Lippen kam.
„Leider bleibt die Wirklichkeit dieser idealen Logik recht viel schuldig.
A. Stöck: Der Manöverwagen des Deutschen Kaisers.
Aber ich möchte mir erlauben, Sie, verehrtes Fräulein, daran zu erinnern, dass
auch die Zeit der höchsten Kunstblüte Italiens, die Zeit Rafaels, Michelangelos,
Tizians, da Vincis, die wir als die der „Renaissance“ bezeichnen, zugleich eine
des tiefsten Sittenverfalls war, die wohl je die Menschheit durchlebt hat. Jener
Zeit gegenüber leben wir ja freilich noch in einer wahren Unschulds-Idylle.“
Edith stand beim Klange dieser hohen Namen und dem Vergleich mit jener
Zeit wie von einem Zauber gefesselt. Sie sah wie in das Reich ihrer schönsten
Träume und war wenig erbaut, als der Onkel, von dem intimen Gespräch mit
der alten Generalin endlich ablassend, sich an Ruthard mit den Worten wendete:
„Nun aber, verehrter Herr Professor, lassen Sie uns auch dem leiblichen
Menschen den ihm gebührenden Tribut nicht länger vorenthalten. Wir haben
uns unsern Appetit wohl verdient.“
Der Doktor schritt mit der alten schwerfälligen Dame voraus, Edith und
Ruthard folgten beiden in sich immer lebhafter steigernder Unterhaltung über
das Italien Rafaels. Seit Jahren hatte sich Ruthard nicht so tief, so gefesselt in
ein Gespräch ziehen lassen. Er fühlte, wie die junge Schwärmerin von der
Gunst der Stunde, die ihr seine Bekanntschaft zuführte, berauscht war, und
genoss das eigene Feuer seiner Worte und Empfindungen mit beglücktem
Selbstgenuss.
„Sie werden ja meine Freude verstehen,“ hatte Edith in ihrer unschuldigen
Offenheit gesagt, „ich habe noch nie im Leben einen grossen Künstler gesehen.“
Erst gegen 11 Uhr trennte man sich von der Tafel in angeregtester Stimmung
und erinnerte sich gegenseitig an die Verabredung, morgen acht Uhr nach dem
Frühstück auf der Terrasse, gemeinschaftlich eine Partie nach dem Gintzer
Bergsturz zu machen.
Ruthard war am andern Morgen spät aus schwerem Schlummer aufgewacht,
von einem singenden Geräusch geweckt. Das Dengeln der Sensen tönte wie
ein leises Mahnen zu Leben und Arbeit von den höher gelegenen Matten
hernieder. Eine sanfte Erinnerung an den gestrigen angeregten Abend breitete
sich wie ein Goldschimmer über sein Erwachen aus.
Der Rat und Edith hatten, wie gesagt, die gemeinschaftliche Wanderung
nach Enemetten vorgeschlagen, um die Trümmerwelt eines früheren Bergsturzes
in Augenschein zu nehmen.
Ruthard kleidete sich jetzt rasch an. Heute bemerkte er zum erstenmale
einige leichte Silberfäden in seinem schwarzen Vollbart, die er sorfältig zu ent-
fernen suchte. Er legte sein Bergsteigerkostüm an und trat tiefatmend auf den
Balkon seines hochgelegenen Zimmers hinaus. Der weite Luftkreis war heute
von einer Lichtfülle und strahlenden Klarheit durchdrungen, wie sie selbst den
Ilochalpen nur an wenigen Tagen in solchem Maasse beschieden ist. Lange hatte
sich seine Seele nicht so frei ausgedehnt. Er glaubte emporschweben zu
können. Auch die Firnenhäupter leuchteten heute in einer Lichtpracht und
Farbenklarheit, wie er sie nie vorher wahrgenommen. Die Uhr zeigte bereits
die achte Stunde.
Bald schritt er unruhig unter den Platanen auf der Terrasse hin und her,
zuweilen glitt sein Blick ungeduldig nach einigen der Fenster im ersten Stock
empor. Ja, er konnte es sich nicht verhehlen, dass er mit Ungeduld dem Er-
scheinen Ediths entgegensah. In der That, er fühlte, er sehnte sich danach,
wieder diesen von den lebendigsten Reizen umspielten Mund reden zu hören,
wieder in diese welterstaunten, weltentzückten Augen blicken zu können, in
deren Spiegel er etwas von dem ihm erstorbenen Jugend- und Schönheitsglanz
der Welt wieder aufzufangen meinte. Ja, er sah nach den nächsten Stunden
wie nach einer tiefen Labe und Erquickung für seine eingerostete Seele aus.
XV 7.
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bei einer staatlichen Veranstaltung, bei einem Fest, am meisten auf irgend einem
Friedhof des Westens, wenn wir einen der unserigen zur letzten Ruhestatt ge-
leiten und uns fragen müssen: Wer wird nun der nächste von uns sein?“
„Grausig, o diese allesverschlingende Welt,“ flüsterte sie erschauernd.
Der Professor war immer wärmer und gesprächiger geworden, je länger er
dem herrlichen Mädchen in die unschuldigen, lachenden Augen voll lebens-
freudiger Begeisterung blickte.
„O, ein Jahr nur möchte ich in Berlin leben,“ rief sie jetzt wieder, wie
innerlich befreit, aus, „ein Jahr malen, singen, sehen, hören, mich ganz voll
saugen von Kunst und Leben, dann wollte ich gern wieder in unser stilles Nest-
chen zurückkehren. Aber von all dem Grossen und Herrlichen immer nur
lesen und hören und nie etwas sehen, das ist doch wirklich gar zu hart für
uns arme Provinzmenschen. Ein wie angeregtes Leben müssen Sie führen!“
rief sie von einer stets steigenden Wissbegier erhitzt.
„„Ein recht abgeschlossenes, arbeitsames, mein Fräulein. Man lebt nirgends
freier und einsamer — wenn man will — als in der Grossstadt.“
„Aber herrlich muss es doch sein, so inmitten all der Kreise des Schaffens
und Wirkens zu stehen?“
„Man hat sich zu sehr daran gewöhnt, als dass man es selbst noch wissen sollte.“
„O, Sie glauben nicht, wie unsereins sich nach solchen Berührungen gerade
mit den Schaffenden sehnt, an deren Werken sich die ganze Nation erbaut.
Man weiss ja mit seiner kleinstädtischen Begeisterung rein gar nichts anzufangen.“
Ruthard lächelte überlegen, aber er konnte sich doch der hinreissenden
Einwirkung dieses naiven Enthusiasmus nicht entziehen, nicht kalt bleiben vor
diesem andächtigen Weltaufblick eines strahlenden jungen Wesens, das voll
seeliger Erwartung vor allem Grossen und Herrlichen des Lebens, der Kunst,
der Welt zu stehen schien.
„Ich möchte Ihnen, mein Fräulein, Ihre schönen Illusionen nicht zerstören,“
begann er jetzt wieder, „aber ich fürchte, wenn Sie in dieses Künstlertreiben
einen Einblick gewinnen sollten, Sie doch erschreckend enttäuscht sein möchten.
Denn das Leben handelt uns allen doch allzuviel von jenen ersten starken Im-
pulsen ab, deren Sie sich noch erfreuen. In all dem Streit der Interessen,
Neigungen, Egoismen bleiben schliesslich praktische Entschliessungen, Missgunst,
Dünkel, Dummheit doch immer das Ausschlaggebende, und weisen uns in einen
Leiergang der Gewohnheit und der Alltagsarbeit.“
„Da fröstelt einem ja ordentlich, Sie übertreiben offenbar, Herr Professor!
Ich habe doch immer gemeint, dass der Künstler, der Dichter, der das Schöne,
das Grosse täglich hervorbringt, und vor uns so als ein Stück lebendiger Ewig-
keit herwandelt, doch auch im Leben nur gross und hoch gestimmt sein und
handeln könnte.“
Ruthard schüttelte gutmütig lächelnd den Kopf, allzusehr sich bewusst des
schnöden Widerspruches der Wirklichkeit mit diesem idealen Anspruch der
jungen grossfühlenden Seele. Er fand Edith gegenüber aber nicht die Stimmung
zu einem satirischen Hohnwort, das ihm sonst so leicht auf die Lippen kam.
„Leider bleibt die Wirklichkeit dieser idealen Logik recht viel schuldig.
A. Stöck: Der Manöverwagen des Deutschen Kaisers.
Aber ich möchte mir erlauben, Sie, verehrtes Fräulein, daran zu erinnern, dass
auch die Zeit der höchsten Kunstblüte Italiens, die Zeit Rafaels, Michelangelos,
Tizians, da Vincis, die wir als die der „Renaissance“ bezeichnen, zugleich eine
des tiefsten Sittenverfalls war, die wohl je die Menschheit durchlebt hat. Jener
Zeit gegenüber leben wir ja freilich noch in einer wahren Unschulds-Idylle.“
Edith stand beim Klange dieser hohen Namen und dem Vergleich mit jener
Zeit wie von einem Zauber gefesselt. Sie sah wie in das Reich ihrer schönsten
Träume und war wenig erbaut, als der Onkel, von dem intimen Gespräch mit
der alten Generalin endlich ablassend, sich an Ruthard mit den Worten wendete:
„Nun aber, verehrter Herr Professor, lassen Sie uns auch dem leiblichen
Menschen den ihm gebührenden Tribut nicht länger vorenthalten. Wir haben
uns unsern Appetit wohl verdient.“
Der Doktor schritt mit der alten schwerfälligen Dame voraus, Edith und
Ruthard folgten beiden in sich immer lebhafter steigernder Unterhaltung über
das Italien Rafaels. Seit Jahren hatte sich Ruthard nicht so tief, so gefesselt in
ein Gespräch ziehen lassen. Er fühlte, wie die junge Schwärmerin von der
Gunst der Stunde, die ihr seine Bekanntschaft zuführte, berauscht war, und
genoss das eigene Feuer seiner Worte und Empfindungen mit beglücktem
Selbstgenuss.
„Sie werden ja meine Freude verstehen,“ hatte Edith in ihrer unschuldigen
Offenheit gesagt, „ich habe noch nie im Leben einen grossen Künstler gesehen.“
Erst gegen 11 Uhr trennte man sich von der Tafel in angeregtester Stimmung
und erinnerte sich gegenseitig an die Verabredung, morgen acht Uhr nach dem
Frühstück auf der Terrasse, gemeinschaftlich eine Partie nach dem Gintzer
Bergsturz zu machen.
Ruthard war am andern Morgen spät aus schwerem Schlummer aufgewacht,
von einem singenden Geräusch geweckt. Das Dengeln der Sensen tönte wie
ein leises Mahnen zu Leben und Arbeit von den höher gelegenen Matten
hernieder. Eine sanfte Erinnerung an den gestrigen angeregten Abend breitete
sich wie ein Goldschimmer über sein Erwachen aus.
Der Rat und Edith hatten, wie gesagt, die gemeinschaftliche Wanderung
nach Enemetten vorgeschlagen, um die Trümmerwelt eines früheren Bergsturzes
in Augenschein zu nehmen.
Ruthard kleidete sich jetzt rasch an. Heute bemerkte er zum erstenmale
einige leichte Silberfäden in seinem schwarzen Vollbart, die er sorfältig zu ent-
fernen suchte. Er legte sein Bergsteigerkostüm an und trat tiefatmend auf den
Balkon seines hochgelegenen Zimmers hinaus. Der weite Luftkreis war heute
von einer Lichtfülle und strahlenden Klarheit durchdrungen, wie sie selbst den
Ilochalpen nur an wenigen Tagen in solchem Maasse beschieden ist. Lange hatte
sich seine Seele nicht so frei ausgedehnt. Er glaubte emporschweben zu
können. Auch die Firnenhäupter leuchteten heute in einer Lichtpracht und
Farbenklarheit, wie er sie nie vorher wahrgenommen. Die Uhr zeigte bereits
die achte Stunde.
Bald schritt er unruhig unter den Platanen auf der Terrasse hin und her,
zuweilen glitt sein Blick ungeduldig nach einigen der Fenster im ersten Stock
empor. Ja, er konnte es sich nicht verhehlen, dass er mit Ungeduld dem Er-
scheinen Ediths entgegensah. In der That, er fühlte, er sehnte sich danach,
wieder diesen von den lebendigsten Reizen umspielten Mund reden zu hören,
wieder in diese welterstaunten, weltentzückten Augen blicken zu können, in
deren Spiegel er etwas von dem ihm erstorbenen Jugend- und Schönheitsglanz
der Welt wieder aufzufangen meinte. Ja, er sah nach den nächsten Stunden
wie nach einer tiefen Labe und Erquickung für seine eingerostete Seele aus.
XV 7.