V
Mine moderne IjBahrsaqerin.
[Nachdruck verboten.]
«fm Tage nach dem Eintreffen der Nachricht von dem schrecklichen Tode
des Königs Ilumbert von Italien erinnerte ein Blatt (Libre Parole) daran,
dass Frau de Thebes schon vor mehr als drei Jahren das gewaltsame Ende
desselben vorausgesagt hatte, und verwies dabei auf seine Nummer vom 14. Fe-
bruar 1897. Die berühmte Chiromantin hatte sich damals einige Zeit in Rom
aufgehalten, wohin sie durch eine hohe Persönlichkeit
berufen worden war. Die Königin Margarethe war
durch verschiedene traurige Voraussagen beunruhigt,
beängstigt worden, wollte deshalb eine bewährte aus-
ländische Chiromantin befragen, welche den Ränken
und Einflüssen des Hofes durchaus fernstand. Frau
de Thebes wurde dazu ausgewählt. Zu Rom wurde
sie in ein bescheidenes Haus eingeladen und einer ver-
schleierten Dame vorgestellt, von der sie jedoch nicht
behaupten will, dass es die Königin gewesen sei. Sic
konnte ihr aus den Linien -der Hand darthun, es stehe
ihr eine plötzliche Witwenschaft, durch einen Mord, in
Aussicht. Die Dame gestand, von entsprechenden Vor-
ahntytgen beängstigt zu sein. Einige Wochen darauf
fand ein Mordversuch auf den König Ilumbert statt,
welcher jedoch glücklich vereitelt wurde. Und jetzt!
Damals hat Madame de Thebes einer grossen Menge
Personen aller Stände, Beamten, Studenten, Politikern,
Schriftstellern, Künstlern, in der Hand gelesen. Sie
fand bei allen Schlachten, Ruinen, Blut und Kampf, so
dass sie Rom am Vorabend schrecklicher Ereignisse,
vielleicht einer Revolution, glauben müsste. Jetzt
erinnere fch mich auch, wie die Zeitungen vor zwei
Jahren berichteten, Frau de Thebes habe einen Krieg
angekündigt, an dem alle Mächte sich beteiligten, der
aber nicht in Europa spiele. Die Russen würden zuerst
ins Feuer kommen, den Krieg beginnen. Also der jetzige Krieg in China! Die
Dame sah damals in den Händen aller sie befragenden jüngeren Offiziere blutige
Zeichen, Waffen, Kämpfe, Verwundungen.
Am Tage nach der Mordnachricht aus Monza gewährte mir Frau de Thebes
eine Unterredung, wobei sie sich freute, dass wir nur zwei Strassen von ein-
ander wohnen. Einige Minuten des Wartens gestatteten mir, ihren Salon näher
zu besichtigen. Derselbe verrät bedeutenden Kunstsinn und Geschmack, enthält
eine Menge gewählter,
seltener Möbel, Kunst-
lind Nippsachen, Bilder,
Stiche u s. w. Statt eines
Kronleuchters hängt in
der Mitte der Decke ein
Bündel Mistel, wie in
manchen PariserHäusern.
Denn die Mistel, der hei-
lige Strauch der Druiden,
gilt noch heute als glück-
bringend. UnterdenNipp-
sachen befinden sich viele
Elefanten in Metall oder
Elfenbein, gleich einigen
Buddahs und sonstigen
Zierstücken indischen Ur-
sprungs; ein Bildnis und
verschiedene Andenken,
des jungen Alexander
Dumas, eine Handschrift
Cagliostros. Auch einen
Kupferstich, nach Rafael,
die vier Prophetinnen
darstellend, welche den
Weltheiland angekündigt
haben. Sonst sind noch
zahlreiche Gipsabgüsse
von Händen zu erwähnen,
die auf Tischen und Mö-
beln zwischen den an-
deren Kunstsachen lagen. Madame de Thebes trat ein, ganz in weite, helle
Gewänder gehüllt. Sie macht den Eindruck einer vornehmen, gescheidten Dame,
bei der nichts Besonderes auffällt, die mit Gewandtheit und nicht ohne Würde
empfängt, nicht darauf zielt irgend eine Wirkung hervorzubringen, ihre Besucher
zu beeinflussen. Sie geht sofort auf den Gegenstand meines Besuches ein, lässt
auch bald einfliessen, sie könne nicht glauben, dass alle in Peking befindlichen
Madame de Thebes.
Madame de Thebes in ihrem Arbeitszimmer.
Franzosen ermordet worden seien. In den Händen einiger Mütter, die sie wegen
ihrer dort befindlichen Kinder befragten, hat sie keine Trauer gelesen. Sie
führte namentlich aus, als Schülerin des berühmten Desbarolles habe sie dessen
Wissenschaft, dessen Forschungen noch weiter vervollständigt. Aus der Form
und den Linien der Hand sind Charakter, Willenskraft, Eigenschaften, Nei-
gungen, Befähigung zu erkennen, woraus sich auf Ver-
gangenheit und auch einigermaassen auf die Zukunft
schliessen lässt. Dank seinem freien Willen vermag
aber der Mensch sein eigenes Schicksal, wo nicht zu
beherrschen, so doch wesentlich abzuändern, Unglück
zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Nicht um-
sonst sagte Alexander Dumas, die Chiromantie sei die
Grammatik der Zukunft. Dank derselben erkennt die
Mutter mit Sicherheit Befähigung und Charakter ihrer
Kinder, kann deren Erziehung und Berufswahl richtig
leiten und so bestimmend auf deren Schicksal hinarbeiten,
manches verhüten, anderes erzielen, was sich ohne diese
Ein- oder Voraussicht anders gestaltet haben würde.
Nun verstehe ich den Vordruck des Briefes, den
Madame de Thebes an mich gerichtet: ein Elefant mit
der Umschrift: Je ne trompe pas, j’avertis — Ich täusche
nicht, ich warne. Ich hatte anfangs ein Wortspiel ver-
mutet, indem trompe auch Rüssel bedeutet. Madame
de Thebes erklärte, der Elefant sei glückbringend, ebenso
auch die Buddha-Bilder. Der Elefant sei klug, gutmütig
und dankbar, mutvoll und stark, ein edles Tier, deshalb ein
gutes Beispiel, eine treffliche Warnung für den Menschen.
Sie geleitete mich auch in ihr Cabinet de consultation,
Arbeitzimmer würde mancher sagen; ein kleinerer Salon,
ebenso geschmackvoll als einfach mit Möbeln und Kunst-
sachen ausgestattet. 1 lauptstücke sind ein grosses Schreib-
pult und die Bücherei. Madame de Thebes hatte die Freundlichkeit, mir ihr
Buch L’Enigme de la Main einzuhändigen, das ich seither durchgegangen. Das
Buch ist gut geschrieben, nach einheitlichem, wohldurchdachtem Plan abgefasst,
was sofort für dasselbe einnimmt. Die Verfasserin legt ihr System, ihre
Wissenschaft — oder wie man es nennen will — mit grosser Klarheit und
bestechender Ueberzeugung dar.
Oh, Sie sind ein Bekehrter, ein Gläubiger dieser Wissenschaft, höre
ich hier von verschie-
denen Seiten einwenden.
Gemach, gemach! Wenn
man seit vierzig Jahren
im öffentlichen Leben
mitthatet, in Paris, Berlin,
Wien und anderen Haupt-
städten lebt, mit allen,
auch den höchsten und
niedersten Kreisen und
Schichten Berührungen
hat, die widersprechend-
sten Ereignisse miterlebt,
tritt man den Tageser-
scheinungen unbefangen
gegenüber, lässt sich nicht
durch vorgefasste Mei-
nungen von gewissen-
hafter Prüfung abhalten;
und man stösst auf gar
vieles, das man, unbe-
schadet der eigenen
Ueberzeugungen, nicht
ohne weiteres von sich
weisen kann. Es war ja
doch ein grosser Mann,
welcher sagte: Es giebt
gar viele Dinge zwischen
Himmel und Erde, von
denen unsere Schulweis-
heit sich nichts träumen
lässt. Im Buch der Madame de Thebes, welches auch mit Abbildungen ausgestattet
ist, habe ich noch mancherlei gefunden, das mir nicht ohne einige Begründung
däucht. Dass die Chiromantie von jeher in Paris gepflegt wurde, ist bekannt,
ebenso auch, dass viele bedeutende Männer an dieselbe glaubten oder sie nicht
unbedingt abwiesen. Natürlich fehlt ja auch die Gegenseite nicht. Nur durch
Prüfung kann Unhaltbares wirklich abgethan werden. II. Kuhn-Paris.
Mine moderne IjBahrsaqerin.
[Nachdruck verboten.]
«fm Tage nach dem Eintreffen der Nachricht von dem schrecklichen Tode
des Königs Ilumbert von Italien erinnerte ein Blatt (Libre Parole) daran,
dass Frau de Thebes schon vor mehr als drei Jahren das gewaltsame Ende
desselben vorausgesagt hatte, und verwies dabei auf seine Nummer vom 14. Fe-
bruar 1897. Die berühmte Chiromantin hatte sich damals einige Zeit in Rom
aufgehalten, wohin sie durch eine hohe Persönlichkeit
berufen worden war. Die Königin Margarethe war
durch verschiedene traurige Voraussagen beunruhigt,
beängstigt worden, wollte deshalb eine bewährte aus-
ländische Chiromantin befragen, welche den Ränken
und Einflüssen des Hofes durchaus fernstand. Frau
de Thebes wurde dazu ausgewählt. Zu Rom wurde
sie in ein bescheidenes Haus eingeladen und einer ver-
schleierten Dame vorgestellt, von der sie jedoch nicht
behaupten will, dass es die Königin gewesen sei. Sic
konnte ihr aus den Linien -der Hand darthun, es stehe
ihr eine plötzliche Witwenschaft, durch einen Mord, in
Aussicht. Die Dame gestand, von entsprechenden Vor-
ahntytgen beängstigt zu sein. Einige Wochen darauf
fand ein Mordversuch auf den König Ilumbert statt,
welcher jedoch glücklich vereitelt wurde. Und jetzt!
Damals hat Madame de Thebes einer grossen Menge
Personen aller Stände, Beamten, Studenten, Politikern,
Schriftstellern, Künstlern, in der Hand gelesen. Sie
fand bei allen Schlachten, Ruinen, Blut und Kampf, so
dass sie Rom am Vorabend schrecklicher Ereignisse,
vielleicht einer Revolution, glauben müsste. Jetzt
erinnere fch mich auch, wie die Zeitungen vor zwei
Jahren berichteten, Frau de Thebes habe einen Krieg
angekündigt, an dem alle Mächte sich beteiligten, der
aber nicht in Europa spiele. Die Russen würden zuerst
ins Feuer kommen, den Krieg beginnen. Also der jetzige Krieg in China! Die
Dame sah damals in den Händen aller sie befragenden jüngeren Offiziere blutige
Zeichen, Waffen, Kämpfe, Verwundungen.
Am Tage nach der Mordnachricht aus Monza gewährte mir Frau de Thebes
eine Unterredung, wobei sie sich freute, dass wir nur zwei Strassen von ein-
ander wohnen. Einige Minuten des Wartens gestatteten mir, ihren Salon näher
zu besichtigen. Derselbe verrät bedeutenden Kunstsinn und Geschmack, enthält
eine Menge gewählter,
seltener Möbel, Kunst-
lind Nippsachen, Bilder,
Stiche u s. w. Statt eines
Kronleuchters hängt in
der Mitte der Decke ein
Bündel Mistel, wie in
manchen PariserHäusern.
Denn die Mistel, der hei-
lige Strauch der Druiden,
gilt noch heute als glück-
bringend. UnterdenNipp-
sachen befinden sich viele
Elefanten in Metall oder
Elfenbein, gleich einigen
Buddahs und sonstigen
Zierstücken indischen Ur-
sprungs; ein Bildnis und
verschiedene Andenken,
des jungen Alexander
Dumas, eine Handschrift
Cagliostros. Auch einen
Kupferstich, nach Rafael,
die vier Prophetinnen
darstellend, welche den
Weltheiland angekündigt
haben. Sonst sind noch
zahlreiche Gipsabgüsse
von Händen zu erwähnen,
die auf Tischen und Mö-
beln zwischen den an-
deren Kunstsachen lagen. Madame de Thebes trat ein, ganz in weite, helle
Gewänder gehüllt. Sie macht den Eindruck einer vornehmen, gescheidten Dame,
bei der nichts Besonderes auffällt, die mit Gewandtheit und nicht ohne Würde
empfängt, nicht darauf zielt irgend eine Wirkung hervorzubringen, ihre Besucher
zu beeinflussen. Sie geht sofort auf den Gegenstand meines Besuches ein, lässt
auch bald einfliessen, sie könne nicht glauben, dass alle in Peking befindlichen
Madame de Thebes.
Madame de Thebes in ihrem Arbeitszimmer.
Franzosen ermordet worden seien. In den Händen einiger Mütter, die sie wegen
ihrer dort befindlichen Kinder befragten, hat sie keine Trauer gelesen. Sie
führte namentlich aus, als Schülerin des berühmten Desbarolles habe sie dessen
Wissenschaft, dessen Forschungen noch weiter vervollständigt. Aus der Form
und den Linien der Hand sind Charakter, Willenskraft, Eigenschaften, Nei-
gungen, Befähigung zu erkennen, woraus sich auf Ver-
gangenheit und auch einigermaassen auf die Zukunft
schliessen lässt. Dank seinem freien Willen vermag
aber der Mensch sein eigenes Schicksal, wo nicht zu
beherrschen, so doch wesentlich abzuändern, Unglück
zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Nicht um-
sonst sagte Alexander Dumas, die Chiromantie sei die
Grammatik der Zukunft. Dank derselben erkennt die
Mutter mit Sicherheit Befähigung und Charakter ihrer
Kinder, kann deren Erziehung und Berufswahl richtig
leiten und so bestimmend auf deren Schicksal hinarbeiten,
manches verhüten, anderes erzielen, was sich ohne diese
Ein- oder Voraussicht anders gestaltet haben würde.
Nun verstehe ich den Vordruck des Briefes, den
Madame de Thebes an mich gerichtet: ein Elefant mit
der Umschrift: Je ne trompe pas, j’avertis — Ich täusche
nicht, ich warne. Ich hatte anfangs ein Wortspiel ver-
mutet, indem trompe auch Rüssel bedeutet. Madame
de Thebes erklärte, der Elefant sei glückbringend, ebenso
auch die Buddha-Bilder. Der Elefant sei klug, gutmütig
und dankbar, mutvoll und stark, ein edles Tier, deshalb ein
gutes Beispiel, eine treffliche Warnung für den Menschen.
Sie geleitete mich auch in ihr Cabinet de consultation,
Arbeitzimmer würde mancher sagen; ein kleinerer Salon,
ebenso geschmackvoll als einfach mit Möbeln und Kunst-
sachen ausgestattet. 1 lauptstücke sind ein grosses Schreib-
pult und die Bücherei. Madame de Thebes hatte die Freundlichkeit, mir ihr
Buch L’Enigme de la Main einzuhändigen, das ich seither durchgegangen. Das
Buch ist gut geschrieben, nach einheitlichem, wohldurchdachtem Plan abgefasst,
was sofort für dasselbe einnimmt. Die Verfasserin legt ihr System, ihre
Wissenschaft — oder wie man es nennen will — mit grosser Klarheit und
bestechender Ueberzeugung dar.
Oh, Sie sind ein Bekehrter, ein Gläubiger dieser Wissenschaft, höre
ich hier von verschie-
denen Seiten einwenden.
Gemach, gemach! Wenn
man seit vierzig Jahren
im öffentlichen Leben
mitthatet, in Paris, Berlin,
Wien und anderen Haupt-
städten lebt, mit allen,
auch den höchsten und
niedersten Kreisen und
Schichten Berührungen
hat, die widersprechend-
sten Ereignisse miterlebt,
tritt man den Tageser-
scheinungen unbefangen
gegenüber, lässt sich nicht
durch vorgefasste Mei-
nungen von gewissen-
hafter Prüfung abhalten;
und man stösst auf gar
vieles, das man, unbe-
schadet der eigenen
Ueberzeugungen, nicht
ohne weiteres von sich
weisen kann. Es war ja
doch ein grosser Mann,
welcher sagte: Es giebt
gar viele Dinge zwischen
Himmel und Erde, von
denen unsere Schulweis-
heit sich nichts träumen
lässt. Im Buch der Madame de Thebes, welches auch mit Abbildungen ausgestattet
ist, habe ich noch mancherlei gefunden, das mir nicht ohne einige Begründung
däucht. Dass die Chiromantie von jeher in Paris gepflegt wurde, ist bekannt,
ebenso auch, dass viele bedeutende Männer an dieselbe glaubten oder sie nicht
unbedingt abwiesen. Natürlich fehlt ja auch die Gegenseite nicht. Nur durch
Prüfung kann Unhaltbares wirklich abgethan werden. II. Kuhn-Paris.