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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lohmeyer, Julius: Alpenglühen, [5]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0139

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MODERNE KUNST.

63

Ruthard wurde wieder misstrauisch. Seine Bewegung war dem Rat unver-
kennbar.

„Eine entfernte Bekannte,“ gab er verwirrt zurück, „die Witwe eines
Freundes, die einen Abstecher von Segesberg herüber gemacht hat, um mich
hier zu begrüssen. Sie wird übrigens schon morgen früh wieder unser Thal
verlassen.“

„So, so! Nun, dann gute Nacht und auf glückliches Wiedersehen!“ rief der
Rat in seiner harmlos vertrauenden Weise.

Ruthard drückte die Thür hinter ihm ins Schloss. Er atmete wie erlöst
auf, denn er musste sich doch sagen: alle seine Pläne und Hoffnungen hatten
seit einer Stunde an einem Seidenfaden geschwebt. Aber sein Glück hatte ihn
gehalten; das Wetter war vorübergezogen.-

Der Professor suchte vergeblich einige Stunden der Nachtruhe. Immer
wieder fuhr er aus schweren Träumen empor. Er konnte nicht ruhig atmen,
so lange Wanda im Hause verweilte; seine Gedanken irrten unablässig von ihr
zu Edith und zurück. Er war noch keineswegs sicher, dass Wanda ihrem Ver-

voller Morgenbegrüssung lüftete. „Frau von Merewsky liess heute früh 5 Ulir
den Wagen um eine Stunde früher bestellen.“

Ruthard verfärbte sich, während er sich scheinbar ruhig abwendete. Sie
hätte ihn also nicht mehr sehen wollen, auch keinen Gruss für ihn hinterlassen.
Mit leichtgesenktem Haupte stieg er die Treppen zu seinem Zimmer wieder
hinauf. Das war also ein völliger Bruch. Er hatte sich doch bei ihr verrechnet.
Aber er glaubte nun auch jedes Mitleids mit ihr enthoben sein zu dürfen. Es
ist wahr, er empfand die beleidigende Art des Abschieds wie einen Fusstritt
von ihr — aber er war nun frei, ganz frei. Und das war doch die Hauptsache.

Als er auf dem Korridor seines Stockwerkes wieder angelangt war und an
No. 47 vorüber kam, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, die Thür
des Zimmers leise zu öffnen. Der von Wanda verlassene Raum lag noch in
kaltem Zwielicht. Im Hintergründe bemerkte er ein unbenutztes Bett, auf dem
Tisch zwei niedergebrannte Lichter und ein noch unberührtes Kaffeeservice. Er
drückte die Thür hinter sich zu. Unwillkürlich näherte er sich dem Schreibtisch
am Fenster und suchte dort zwischen den Papieren umher. Das Schreibzeug

Der Lesesaal des Deutschen Reichstages.

Nach einer Photographie von Julius Brate:.

sprechen, abzureisen, nachkommen würde. Alles stand auf dem Spiele, wenn
sie doch blieb. Er hatte bereits, wie er meinte, das letzte Mittel erschöpft. Die
furchtbare Nacht wollte für ihn kein Ende nehmen. Die Ungewissheit trieb ihn
vom Lager auf. Er war entschlossen, — um sie zu schonen, wie er sich ein-
zureden suchte — Wanda, wenn es sein musste, durch ein wohldurchdachtes
Lügenmärchen zu täuschen.

Schon gegen V26 Uhr stieg er die teppichbelegten Treppen in das Vestibül
hinunter, wo er Wanda zu erwarten gedachte. Auf den Korridoren herrschte
noch schläfriges Dämmern, nur vom Hofe her vernahm man das Aufschlagen
der Rosse, die von den Knechten geputzt wurden, auf das Steinpflaster, und
aus der Souterrain-Küche schallte wüstes Gezänk der Mägde herauf.

Der Wagen war noch nicht vorgefahren. Ruthard zog seine Uhr und suchte
mit ungeduldigem Kopfschütteln nach dem Portier. Er wünschte die Abschieds-
minuten so knapp wie möglich zu bemessen.

„Wo bleibt der Wagen für die Dame von No. 47,“ herrschte er den Alten
an, als er diesen aus dem Souterrain emporsteigen sah.

„Die Dame ist bereits vor einer Stunde abgefahren,“ antwortete der sonst
stets höflich Lächelnde verdriesslich ernst, indem er seine Mütze zu respekt-

schien unbenutzt geblieben zu sein. Ein Gefühl von Scham und teilnehmendem
Mitgefühle für die Verlassene würgte ihn einen Augenblick. Da dachte er an
Edith, und vor ihrer reinen Seele fühlte er sich gerichtet.

Schwül und schwer war die Luft im Zimmer. Er riss beide Fensterflügel
auf und sog begierig die kalte Frühluft ein.

Der Tag erschien ihm wie dazu geschaffen, Edith sein auf der Enemettener
Partie gegebenes Versprechen einzulösen, Edelweiss von den Steilen des Goten-
stocks für sie herabzuholen. Dieser plötzlichen Entschliessung ging er sofort mit
Eifer nach. Dort oben in heiliger Hochweltseinsamkeit wollte er die hellen Edel-
sterne für sie brechen, die ihm und seiner Kunst ein neues Leben schenken sollte.

Vor dem Portal des Hotels fand er den Portier mit bedenklicher Miene
Wetterumschau halten. Der getreue Eckard des Hotels erlaubte sich, den Herrn
Professor, der eben in die Thür trat, nach dem Ziel seiner Bergwanderung zu
befragen und bat ihn, als er vernahm, dass der Aufstieg dem Goten gelten sollte,
ihm empfehlen zu dürfen, den jungen Brunner als Führer mitzunehmen, der
zur Zeit im Hotel verweilte. Ruthard aber, der schon im Abgehen war, lehnte
mit einer unwirrschen Kopfbewegung die ihm zugedachte Begleitung ab. Er
wollte und musste heute mit sich allein sein. [Fortsetzung folgt.]
 
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