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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lohmeyer, Julius: Alpenglühen, [6]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0161

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lpenglühen. •-!

Ui.

Roman von Julius Lohmeyer.

[Fortsetzung.]

war gegen 11 Uhr als Ruthard in stetem Aufklimmen bereits
die letzte Sennhütte erreicht und eine Stunde später die
Jochhöhe überschritten hatte, um von der Rückseite her den
bequemeren Aufstieg des Kegels zu unternehmen. Aus der
Tiefe des Schlundes, in dem graue Wolkenmassen wie
ein wallender Nebelsee auf und nieder wogten, drang das
donnernde Tosen unsichtbar niederstürzender Bergwässer
schauerlich empor. Nie hatte sich ihm ein Hoch\yeltbild
von ähnlich grauser Majestät dargeboten wie dieses. Er
stand übermannt vor der wilden Grösse dieser Bergscenerie.
Die Wolkenwand im Westen hatte jetzt jene bleigraue Färbung
angenommen, die immer auf anhaltende Niederschläge weist.

} Kräftig stiess er, seinen Weg nun rascher fortsetzend, den

Alpenstock in den kurzen Bergrasen. Schon nach kurzer Zeit verlor sich jedoch
auch diese letzte karge Vegetation in der öden Region eines kahlen Trümmer-
geländes, das sich von klaftertiefen Risseu und Abstürzen durchbrochen zeigte.

Als er eben eine breitere Fels-Terrasse erklommen hatte und tief aufatmend
hier Rast hielt, bemerkte er, wie infolge der jetzt zur Tiefe niedergleitenden
Sonnenstrahlen Leben und Bewegung in die aufquellende Nebelmasse der
Schlucht gekommen war. Ruthard erkannte, dass ein beschleunigtes Vordringen
not thue, um sich nicht von den ausbreitenden Nebeln den Rückzug abschneiden
zu lassen. So eilte er denn, immer die Klippen absuchende Umschau haltend,
den schmalen Steg unter der überhängenden Felswand entlang, bis er plötzlich,
einen breiten Steinpfeiler umschreitend, sich in atembeklemmender Nähe dem
ungeheuren Steinkoloss des Morterkopfes gegenüber sah. Schwindelnd blickte
er von dem schmalen Felsrande in den Abgrund, aus dem das trübe Dunst-
gewoge nun immer voller aufquoll, dessen Vorläufer schon die höheren Zacken
erreicht hatten.

In müder Strahlenlosigkeit hing die Sonne über seinem Haupte. Jetzt
schlichen zerflatternde Nebelschlangen über seinen Pfad und mahnten zu eilend-
ster Umkehr, als er endlich aus einer Steinspalte über sich die schwankenden
Silberzweige einer Edelweissstaude niedernicken sah. Auf seinen Bergstock ge-
stemmt, schwaug er sich auf den nächsten Vorsprung, von dem es ihm mit
einiger Mühe gelang, eine dichte Handvoll der schneeig-wolligen Blüten zu sich
herabzureissen. Seiner Beute froh, sprang er auf die Platte zurück, um nun
schleunigst den Rückweg zu nehmen, als sein Blick noch einmal auf das jetzt
von Wolken halb verhüllte ungeheure Berghaupt fiel, welches jetzt die riesigen
Formen eines versteinerten Greisenantlitzes angenommen zu haben schien, das
mit halberstorbenen, müden Augen auf ihn herüber starrte. Es war ihm, als
blicke er ergrausend in das Gesicht der Hochwelteinsamkeit selbst; von unheim-
lichen Höhenschrecken gejagt, stürzte er sich in die graue Nebelwand hinein,
die sich bereits um ihn zu schliessen begann. Noch durchbrach matter Sonnen-
schimmer die bewegliche Dunstschicht um ihn und liess ihn auch die verlassene
Pfadspur wiederfinden. Bald aber erlosch auch dieser letzte Schein und ein
lichtloses Grauen lagerte rings über der Steinwüste.

Er hatte bald den Pfad verloren und tastete sich nur noch an den Stein-
blöcken in verlorener Richtung unsicher umher, die ihn auch dem Abgrund zu-
führen konnte. Einen abrutschenden Stein, der unter seinem Fusse ausglitt,
hörte er noch einmal in der Nähe aufschlagen, dann aber in Stille verschwinden:
er schien in endlose Tiefen hinabgesprungen zu sein. Erschrocken hielt Ruthard
an, in tiefen Nebel gehüllt. Er durfte keinen Schritt mehr weder vor, noch rück-
wärts wagen. Er musste an eben dieser Stelle verweilen, bis sich der Nebel
einigermaassen lichtete. Aber das konnte Stunden, das konnte, wie er wusste,
Tage lang währen. So liess er sich auf dem nächsten Steinblock nieder, um
zu überlegen.

Sorglich barg er vor allen die Edelweissrauten in seinem Tornister, zog
sein Plaid fester um sich zusammen und versuchte sich möglichst bequem ein-
zurichten. Es vergingen Stunden. Die Dämmerung umhüllte ihn immer dichter.
Schon schüttelte ihn der Nachtfrost. Er teilte sich einige Brocken und einen
Schluck des Weins zu, die er noch in dem Ranzen vorfand, dann übermannte
ihn, von Nacht und Nebel umhüllt, die Erschöpfung. All sein Genie, dem er
jede Pflicht zum Opfer bringen zu dürfen glaubte, war jetzt nutzlos für ihn
geworden, denn Hände und Arme, es zu bethätigen, gebrachen ihm. Er hörte
die Stimme des Rates: „Du hast kein Recht mehr zu leben!“

Entsetzt fuhr er aus wirrem Schlafdusel auf. Ein matter Nebelschimmer
durchbrach jetzt die Nebellast. Er meinte von einem fernher tönenden Ruf ge-
weckt worden zu sein und lauschte emporgerichtet und mit gespanntem Ohr
in das Dunstgrau hinaus. Richtig, da kam der Ton wieder, von fernher durch
den Nebel — wie das matte, verhallende Tönen eines Nebelhornes. Und jetzt
aufs Neue — wie ein unterdrückter Juchzer. Er sprang zugleich auf beide
Füsse und liess einen gellenden Schrei ins Weite tönen, aber keine Antwort er-
folgte. Er musste die Richtung verfehlt haben Er erstieg die höchste Stelle

- [Nachdruck verboten.]

des Felsblockes und stiess einen angstvollen Hilfeschrei aus — und jetzt — jetzt
kam ganz deutlich aus weiter Nebelferne ein verschleierter Ton, ein verwehen-
der Juchzer zu ihm herüber — man suchte ihn also. Er antwortete mit hellem
Ruf, diesen von Minute zu Minute wiederholend. Und plötzlich belebte sich die
tote Dämmerung vor ihm, und verblasste Schattengestalten tauchten in un-
sicheren Umrissen vor ihm auf.

„Hierher!“ schmetterte sein Ruf, den Kommenden entgegen, und mit einem
Satze aus dem Dunkeln hervortretend, stand jetzt die mittelgrosse Gestalt des
jungen Brunner vor ihm. Seine kecken Augen lachten ihn fröhlich an. Ruthard
reichte dem Wackern dankfreudig die Rechte. In eben diesem Augenblick trat
ein anderer, ihm gleichfalls bekannter Führer aus dem Dunst hervor.

Sie schlangen das Seilende um den Gefundenen, nahmen ihn in ihre Mitte
und gaben ein Signal in die Weite hinaus. Vorwärtsschreitend, bald den Strick
anziehend, bald wieder nachlassend, dann wieder anhaltend, um irgend eine
Hemmung mit energischem Griffe geschickt zu beseitigen, drangen sie durch
den Nebel immer weiter vor und standen endlich, die letzte Nebelschicht durch-
brechend, vor den immer klarer vor ihnen auftauchenden Genossen auf sicherem
Boden. Das Seil wurde rasch aufgerollt. In einer halben Stunde hatte die
kleine Schar das tiefer gelegene, nebelfreie Joch überschritten, zu dem die
Hütten des Thals aus dem Morgendunst emporgrüssten.

Sie waren bis jetzt fast wortlos dahingeschritten. Jetzt gebot Ruthard Halt.
Tief erschöpft sank er unter einer Arve nieder. Brunner reichte ihm einen
Becher Wein und von den mitgebrachten Speisevorräten. Auch die Führer
rasteten unter einer überhängenden Wand und nahmen ihr Morgenmahl ein.

Neben Ruthard lagerte Brunner, der ihm von Zeit zu Zeit den Becher füllte,
und, von Ruthard selber zum Trinken gemahnt, nun gesprächig wurde. Er be-
richtete von den Besorgnissen und der Aufregung des Fräuleins beim Ausbleiben
des Herrn Professors.

Ruthard vernahm gerührt von Ediths ängstlicher Sorge um ihn. Die Be-
sorgnis, die immer wieder über ihn kam, Wanda hätte doch noch ihre Rache-
pläne ausführen können, wurde durch diese Mitteilungen zerstreut.

Es war Mittag, als sie das Hotel erreichten. Eben läutete die Hotelglocke
zu Tisch; Hausgäste und Reisende drängten von der Terrasse über die Rampe
durch die offene Thür nach den Sälen, als die Heimkehrenden durch die hintere
Einfahrt unbemerkt in das Haus gelangten. Der Professor, der sich in seinem
verwahrlosten Zustande nicht wohl blicken lassen konnte, gelangte über die
Domestikentreppe in sein Zimmer hinauf und suchte in tiefer Erschöpfung hier
Ruhe und Schlaf. Er hatte befohlen, das Fräulein von seiner glücklichen Heim-
kehr in Kenntnis zu setzen.

Gegen 7 Uhr abends erst erwachte er, wunderbar erfrischt. Er hoffte
Edith, die, wie er vernommen, heute ihr Zimmer, wenn auch noch hinkend, ver-
lassen, noch im Pavillon unten anzutreffen, begegnete ihr jedoch schon im Halb-
dunkel der unteren Treppe. Bald wäre er an ihr vorübergestürmt. Einen
unterdrückten Freudenruf ausstossend trat Edith auf ihn zu. Unter dem hellen,
runden Strohhut lächelte sie ihm in strahlender Unbefangenheit entgegen.

„Gott sei Dank, Herr Professor, dass Sie wieder gesund zurück sind. Wie
sehr haben wir uns um Sie geängstigt! Brunner hat mir übrigens berichtet,
wie ernst in der That Ihre Lage hätte werden können.“

„O, es war gar nicht so arg schlimm, mein Fräulein!“ scherzte Ruthard.
„Und zum Glück habe ich Ihren Wunsch dabei doch noch erfüllen können.“
„Wie!“ rief Edith unwillig erstaunt, „um meinetwillen waren Sie hinauf
gestiegen? Dieser Blüten wegen haben Sie sich solcher Todesgefahr aus-
gesetzt?“ — „Hätte es sein müssen, um niemanden lieber.“

„O pfui,“ erwiderte Edith ehrlich entrüstet, „ich kann solche Worte nicht
von Ihnen hören. Das ist gotteslästerlich, wirklich frivol. Jetzt kann ich mich
auch an den Blüten nicht mehr freuen.“

„Sie dürfen mir die Freude nicht verderben. Jetzt ist ja alles glücklich
vorüber.“ Sie blickte ernst in die Blütensterne.

„Aber ich weiss doch, wie gross die Gefahr war, in der Sie geschwebt haben.“
„So wichtig ist mir das Leben nicht.“

„Ich bitte — kein solches Wort mehr!“ rief sie jetzt in der That zürnend.
„Es ist unser heiligstes Gut. Onkel würde Ihnen ernste Wahrheiten sagen.“
„Wie schön Ihnen diese Entrüstung steht!“

„Nein, nein, Herr Professor,“ eiferte Edith in ehrlichem Verdruss, „Sie
kränken mich wirklich. Ich meine, solche Gaben, wie die Ihrigen, sollten Ihnen
doppelte Verpflichtung auch dem Leben gegenüber auferlegen. Ich kann mich
für Ihr Geschenk nicht mehr bedanken.“

„Sie danken mir durch Ihre unverdiente Teilnahme. — Aber Sie dürfen
nicht so lange stehen, mein Fräulein. Ich bin ja beglückt, Sie wieder so tapfer
umher steigen zu sehen. Bitte, Fräulein Edith, Ihren Arm.“

Sie reichte ihn halb zögernd, und er führte sie nun mit zarter Behutsamkeit
die Stufen empor.
 
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