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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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MODERNE KUNST.

XXXIII

immungen:

Rosa J)ßrfens.

l'enn Rosa Bertens von ihrer Kunst
(3??spricht — nicht oft versteht sie sich
dazu —, so wird die warme Beredsamkeit,
die von ihren Lippen strömt, noch von der
Beredsamkeit ihrer tiefdunklen Augen über-
troffen. Aus ihnen spricht das Vollblut-
temperament der Künstlerin, das heisse Blut
der am Bosporus geborenen Orientalin. Und
es funkelt nicht nur in ihren Augen, es rötet
auch die bräunliche Wange, durchglüht die
gesamte Gestalt, belebt und durchleuchtet sie,
als ob eine Flamme in ihr brenne.

Seit Rosa Bertens im Jahre 1888 zuerst
als Francilion am Residenztheater in Berlin
debütierte, hatte man sich daran gewöhnt, eine
der virtuosesten Vertreterinnen der, stets sich
wiederholenden, weiblichen Typen moderner
französischer Sittenkomödie in ihr zu sehen.

Die Künstlerin selbst fühlte trotz allen
Eifers und aller Liebe, mit der sie sich in
ihre Aufgaben versenkte, dunkel, dass im
Grunde ihrer Seele etwas schlummre, das
tiefer, inniger, wärmer war, als die künst-
lerische Ausdrucksweise, die die französische
Komödie von ihr forderte. Sie fühlte etwas
sich regen, zum Lichte drängen, das sie
selbst kaum begriff und immer wieder zurück-
drängte. Hatte sie nicht auf dem Platz, auf
den sie gestellt worden war, ihre grossen
und berechtigten Erfolge? Was also wollte
sie mehr?

Dem und jenem besonders sich vertiefen-
den Zuschauer fiel es wohl auch dann und
wann ein, dass es für das warmblütige Talent, das reiche Können Rosa
Bertens’ noch ein anderes Kunstgenre geben möge, als das französische Sitten-
drama, im allgemeinen aber war man zufrieden, sie immer wieder dort zu
finden, wo man sie zuerst gesehen, in einem Rahmen, an den man sich für
Rosa Bertens’ Bild nun einmal gewöhnt hatte.

Da kam zu Anfang der neunziger Jahre die erste grosse künstlerische Ueber-
raschung für das Publikum, die erste volle und satte Genugthuung für die Künst-
lerin, der erste wirklich grosse Augenblick in ihrer Laufbahn: die erste Auf-
führung von Haupt-
manh’s Webern an der
Freien Bühne, in der
RosaBertens die Luise
Hilse anvertraut war.

Mit Bangen und
Zagen war sie an
diese Aufgabe ge-
gangen. Schon der
Dialekt dünkte ihr un-
überwindlicheSchwie-
rigkeiten zu bereiten,
bis ein der schlesi-
schen Mundart kundi-
gerKollege sieinseine
besonderere Anlei-
tung nahm.

Und dann, nach
allen zagenden Vorbe-
reitungen, ein voller,
ehrlicher Erfolg für
eine volle und ehr-
liche künstlerische
Gabe: Rosa Bertens
hatte sich selbst, ihre
tiefsten, herbsten und
leidenschaftlichsten
Accente entdeckt, das
Publikum und die
Kritik hatten das
Maass erkannt, nach
dem sie fortab zu
messen sein würde.

Rosa Bertens als „Kassandra

1 Dr. Lohmeyer.

2 Ru<l. Maison. 3 Geh. Rat Ende. 4 S. Buchbinder. 5 F. Pfnnnschmidt. 6 Max Uth.

9 Max Fx'itz. 10 H. Weiss. 11 F. Jüttner.

Vom holländischen Abend dos Vereins Berliner Künstler.

[Nachdruck verboten.]

Dieser ersten, innerlich tief einschneiden-
den Episode folgte nicht lange danach eine
andere künstlerische Genugthuung, gelegent-
lich der mustergiltigen ersten Aufführung von
Strindbergs Gläubigern, in der Rosa Bertens
die aus unzähligen sich widersprechenden
Elementen zusammengesetzte, überaus schwer
anzufassende Thekla spielte. Weit überholt
aber wurde der Tag der Luise Hilse, der
Tag- der Thekla durch den nur um Wochen
zurückliegenden Tag, an dem Rosa Bertens
in Aeschylos’ Gigantentragödie vor die un-
geheure Aufgabe gestellt wurde, die Tochter
des Priamos, die weissagende Kassandra, zu
verkörpern.

Eigentümliche, beklemmende, gänzlich
niederdrückende Seelenzustände gingen diesem
grossen Tage, dem gewichtigsten Marksteine
ihres Lebens voran. Als der Plan zur Auf-
führung der Orestie von der Akademischen
Vereinigung für Kunst und Litteratur gefasst
worden war, und an Rosa Bertens im Sep-
tember die Anfrage erging, ob sie es über-
nehmen wolle, die Rolle der Kassandra zu
schaffen, beherrschte sie nur der eine Ge-
danke: wird man Dir diese übermenschen-
grosse Gestalt glauben nach dem, was man
durch Jahre von Dir zu sehen gewohnt ist?
Je näher der Zeitpunkt rückte, je beklommener
wurde ihr zu Sinn. Die unmittelbaren Vor-
gängerinnen der Kassandra waren Suder-
manns Wess-Kallnene und eine moderne
Virtuosenrolle inPhilippis neuester Sensations-
komödie! Und nochmals und abermals: würde man ihr d;e Kassandra glauben?
Aber dann, ganz plötzlich, ganz unvermittelt, kam eine grosse Wandlung über
sie. Nachdem sie sich zuerst wiederholt gesagt, ja von dem Gedanken nicht
abzubringen gewesen war: Du stirbst, wenn es wirklich dazu kommt, nachdem
sie in den ersten Proben gefühlt hatte, es sei nicht das richtige, was sie zu geben
trachtete, nachdem sie, die in jeder modernen Rolle im vornherein weiss, wie weit
sie zu gehen hat, für das Zuviel oder Zuwenig der Kassandra kein Maass und
keinen Halt finden konnte, fiel es ihr am ersten Tage, da sie das Kostüm der

Kassandra trug, wie
Schuppen von den
Augen. Das ganze
Bild der furchtbaren
und ergreifenden Tra-
gödie stieg plötzlich
vor ihr auf. Mit leib-
haftig sehenden Augen
sah sie den Mord Aga-
memnons sich voll-
ziehen, eine plötzliche
Suggestion war über
sie gekommen. Zum
erstenmal seit sie dem
Theater angehörte,
verlor sie jedes Be-
wusstsein davon, auf
der Bühne zu stehen,
ein vollständiges
Selbstvergessen hatte
von ihr Besitz er-
griffen, ein innerer
Zwang, die Kassan-
dra zu sein, nicht
sie zu spielen. Und
so gelang, fast unbe-
wusst, getragen von
der Gewalt der Dich-
tung, der hinreissen-

. den Macht der klassi-

R 7 R O 10

sehen Sprache, auch
dieser grösste Wurf
ihrer geläuterten

7 Hans Itaberstein. 8 Paul Heydel.

II. Boll, Berlin, fl hot.
 
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