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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Happrich, Victor: Vom Ballett
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0297

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134

MODERNE KUNST.

bekannt. Ludwig XIII. von
Frankreich tanzte selbst
mit, und auch sein pracht-
liebender Nachfolger er-
schien als Tänzer in einem
Ballett „Flora“ auf der
Bühne. Erst von die-
sem Zeitpunkt ab, seit
ungefähr dem Jahre 1700,
treten Frauen als Ballett-
tänzerinnen auf. Zu den
Ballettkoryphäen der Neu-
zeit gehören die Familien
Vestris und Taglioni,
die Tänzerinnen Fanny
Elssler, die Grisi, die
Grahn, dell Era, Adeline
Genee und Hedwig Gan-
tenberg. Wenn auch heute
Fürsten und Herren nicht
mehr selbst als Akteure
die Bühne betreten, so
findet man gerade bei
ihnen ein ganz beson-
deres Interesse für das
Ballett, da es sich vor
allen Dingen für Galavor-
stellungen zu Ehren fürst-
licher Besuche eignet.

Unter der Regierung Kai-
ser Wilhelms I. gelangten
auf der Berliner Opern-
hausbühne bei den Hof-
festlichkeiten stets die
grossen historischen Bal-
letts Sardanapal und Se-
miramis zur Aufführung.

Heute gehört ein Corps
de Ballett zu den Erfor-
dernissen jeder grösseren
Bühne. Natürlich wird
mit dem Unterricht und
der Ausbildung schon
früh begonnen. Die klei-
nen Mädchen im schul-
pflichtigen Alter werden
früh gedrillt und ihnen
jener Geist eingeflösst,
welcher später jeder
Corpstänzerin eigen ist
und fast etwas gemein
hat mit dem militärischen
Corpsgeist der Soldaten.

Nach jahrelangem Drill
und zahllosen Proben
werden die jungen Ele-
vinnen, welche als Fi-
gurinen zunächst in Posen
und Attitüden u. s. w. Verwendung gefunden haben, dem Corps als junges Mit-
glied einverleibt. Hier geht nun die junge Tänzerin völlig in ihrem Beruf auf;
bei ziemlich mässiger Gage, welche zwischen 80—120 Mk. schwankt, schwerlich
aber 150 Mk. überschreitet, ist es ein mühseliges Brot, das diese Mädchen essen,
die oft noch von der mageren Gage Vater und Mutter unterstützen. Indessen
der Leichtsinn und die ganz eigene Sorglosigkeit des Gemüts helfen über trübe
Stunden schnell hinweg. Es giebt kaum ein interessanteres Bild, als die Mitglieder
eines Ballettkorps während der Probe zu beobachten. Die Erscheinungen der
Mädchen sind besonders grotesk, da sie sich selbst, mit Ausnahme der Solo-
tänzerinnen, die Probierkostüme herzurichten pflegen. Diese bestehen bei einigen
in richtigen Bloomers, bei anderen in einer Anzahl kurzer Röckchen; nur die Fuss-
bekleidung ist bei allen die gleiche, nämlich der bekannte Ballettschuh mit seiner
charakteristischen Spitze und seinen Wickelbändern. Mailand ist übrigens auch
für diese Schuhe der bekannteste Fabrikationsort. Hierzu kommt das heitere
Temperament der Mädchen, welche der gestrenge Herr Ballettmeister, der oft kein
Wort deutsch spricht, nur mit grosser Mühe in Raison halten kann. Man kann bei
solchen Ballettproben oft alle Verwünschungen in italienischer und französischer
Sprache zu hören bekommen, nur gut, dass die jungen und älteren Damen des
Corps der Unsterblichen, wie das Ballettcorps scherzweise genannt wird, diese
Sprachen selten verstehen. Wie anders erscheint das Corps des Abends in der
Vorstellung! Sorgfältig frisiert, geschminkt und gepudert, in farbenprächtigen

Kostümen und seidenen
Trikots, so steht die leicht
geschürzte flüchtige Schar
klopfenden Herzens hin-
ter den Coulissen, bis sie
das Stichwort des Re-
gisseurs auf die Bühne
ruft. Wie das glänzt und
gleisst, wie das lacht und
flirtet, eine kleine Armee
schöner Gestalten im Tri-
kot, welche ins Treffen
geführt wird und unbe-
dingt siegen muss. Selbst-
redend gehören zum Siege
gut gerüstete Kämpfer
und vom Pas coupe bis
zum Sant de ballon ist
eine gewaltige Reihe
von Schritten, Sprüngen,
Pirouetten u. s. w. zu er-
lernen, bis die Tänzerin
soweit ausgebildet ist,
dass sie auf den Brettern
ihren Platz ganz ausfüllen
kann. Da kostet es oft
vielThränen, Nachproben
und Einzelproben, bis der
Maestro sich zufrieden
zeigt und den „Lehrling“
in das Corps einstellt.
Was den specifisch mora-
lischen Charakter der
Balletteusen anbelangt, so
sind im Publikum häufig
recht irrige Meinungen
verbreitet; die Jünge-
rinnenTerpsichorens sind
durchaus nicht leicht-
fertiger oder leichtsinni-
ger als ihre Kolleginnen
von den Brettern oder
vom Brettl. Da wirklich
gute Tänzerinnen selten
sind, so kommen nur
wenige dazu, in die vor-
dersten Reihen einzu-
rücken, d. h. Tänzerinnen
der ersten Quadrille zu
werden. Ist es indessen
einer Tänzerin gelungen,
durch ihre Leistungen
die Aufmerksamkeit des
Ballettmeisters zu er-
regen, so kann sie davon
träumen, auch einmal eine
„Koryphäe“, eine Solo-
tänzerin, zu werden.
Allerdings gehört hierzu Fleiss und Ehrgeiz, sowie in erster Linie natürlich
Talent, denn jede Solotänzerin muss ihre „ Specialität “ haben, so muss sie
z. B. gut „auf den Spitzen“ sein, sie muss gut „Ballonschritte“ ausführen u. s. w.,
kurz, sie muss in der Perfektion irgend welcher Tanzschritte bezw. Bewegungen
Vollendetes bieten. Als selbständige Kunst ist die Tanzkunst heut, gleich der
Schulreiterei des Cirkus, im Niedergang begriffen, da es an guten Lehrern und
Schulen zur Pflege dieser Künste fehlt. Wohl giebt es auch heut noch in
Italien und Frankreich gute Ballettmeisterinnen, wie z. B. Maestra Caprotti,
Maestra Cucchi, und Ballettmeister, welche mit grosser Gewissenhaftigkeit
unterrichten, doch schrumpft deren •Zahl von Jahr zu Jahr mehr zusammen.
Heut erschöpft sich das Ballett eigentlich nur in der Zurschaustellung körper-
licher Reize, da nur grosse Kostüm- und Ausstattungseffekte die Schaulust
fesseln. Während das Ballet etwas durchaus Selbständiges ist, sucht man es
immer mehr mit der Operette zu vereinen, so dass sich daraus die jetzt so be-
liebten Ausstattungspantomimen entwickeln, in denen das Ballett, nicht immer
die richtige Stellung inne hat, die ihm gebührt. Jedem Kenner des Balletts und
seiner Sprache wird der Anblick eines gut geschulten Corps einen wirklichen
Genuss bereiten, der zwar ein sinnlicher, aber trotzdem kein unedler sein
dürfte, da er es mit ernster Kunst zu thun hat. Eine gute Tänzerin, sei sie
nun Grotesktänzerin, Charaktertänzerin oder klassische Solistin, wird an allen
Orten verstanden werden, denn die Sprache der Beine ist „international“.

E. Mesples: Ballettscene.
 
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