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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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LVII

J^Hmmungen.

ßin Blinder und faußer ^piclper.

PyJTn Dresden begegnete man in den 70er und 80er Jahren, wenn die Witterung
xy den Aufenthalt im Freien nicht geradezu unmöglich machte, in den stillen
Strassen nahe der Bürgerwiese vormittags regelmässig einem kleinen alten Herrn
am Arme einer schlanken, jungen Dame. Ein breiter Schlapphut war tief in die
Stirn des Alten gezogen, und eine dunkle Brille oder ein grüner Schirm schützte
seine Augen. So wa: er auch an mir lange Zeit Tag für Tag vorübergeschritten,
bis ich endlich zu meiner Ueberraschung erfuhr, wer es war: Hieronymus Lorm,
der feinsinnige, contemplative Lyriker und Geistesverwandte Schopenhauers.

Bald darnach lernte ich dann auch die betrübenden Umstände kennen,
welche Hieronymus Lorm zu beinahe völliger Zurückge-
zogenheit zwangen: er ist nämlich blind und taub, aber
nicht blind und taub geboren, sondern erst allmählich des
Augenlichtes und des Gehörs verlustig gegangen. Ausge-
schlossen von der Fülle des Lichtes, von dem Reichtum der
Töne, nachdem er beides kennen gelernt hatte, hineingestossen
in dunkle Nacht und öde, grauenvolle Stille, dazu auch sonst
noch schwer leidend — so hatte er damals schon Jahrzehnte
dahingebracht; und heute steht er an der Schwelle des
achtzigsten Jahres!

Als Jüngling, der zu den schönsten Hoffnungen berech-
tigte, namentlich auch in hohem Grade musikalisch begabt,
büsste er infolge einer Krankheit das Gehör völlig ein, und
nach wenigen Jahren schon erlahmte auch seine Sehkraft
immer mehr. So manchen hätte das Grausame eines solchen
Geschickes zum Wahnsinn oder zum Selbstmord getrieben —

Lorm aber fiel weder der geistigen Vernichtung, noch der
leiblichen Selbstzerstörung anheim, sondern er ertrug, er
überwand sein schweres Los, ja, er fand die Kraft in sich,
noch in reichstem Maasse schöpferisch nach aussen zu wirken,
obwohl ihm die Aussenwelt jeden Verkehr mit ihr unmöglich
machen, ihm nichts mehr von ihrem Getriebe sehen und vernehmen lassen wollte.

Statten wir dem Unglücklichen, der sich indes durchaus nicht mehr als solchen
fühlt und auch keineswegs bemitleidet sein will, einen Besuch in seinem Arbeits-
zimmer ab. Es ist eine vorgerückte Nachmittagsstunde, die Zeit, wo Lorms
Privatsekretär sich einzustellen pflegt. Ein geräumiges Zimmer; an den Wänden
entlang hohe Büchergestelle; eine niedrig geschraubte Lampe verbreitet eine
matte Helligkeit. Dichter Cigarrenrauch schlägt dem Besucher entgegen. Das
Auge muss sich erst an das eigentümliche Helldunkel gewöhnen; an dem einen
Fenster steht ein Tisch mit einem Stoss gleichmässig geschnittener Papierblä'ter
und einem Schreibzeug. Neben dem Tisch befindet sich ein Ledersofa. Auf
diesem ruht Lorm, den von silberweissem, kurz gehaltenem Lockenhaar um-
gebenen Kopf auf die eine Seitenlehne zurückgebeugt, den Körper voll aus-
gestreckt. Die Lampe wird höher gedreht, Lorm merkt nichts davon, obwohl
er kaum einen Meter ent-
fernt liegt. Ein weisser,
runder Vollbart bedeckt
die untere Hälfte seines
Gesichts. Ein unbe-
schreiblich rührender
Leidenszug ist um den
Mund eingegraben; das
ganze Gesicht hat etwas
Durchgeistigtes und Fried-
liches, den Ausdruck
höchster Entsagung. Die
Augen sind geschlossen;
dass er aber nicht schläft,
beweist die brennende
Cigarre in seiner Lland.

Er hat nur eben noch
keine Kenntnis davon,
dass er nicht mehr allein
ist. Er lebt offenbar noch
ganz in seiner Gedanken-
welt. Eine Berührung
seines Armes weckt ihn;
er weiss, es ist der Se-
kretär. Lorm spricht
einige freundliche Be-
grüssungsworte und be-
ginnt dann die Fort-
setzung eines Romans
oder einer Novelle zu

[Nachdruck verboten.]

diktieren. Höchst selten nur lässt er eine Aenderung oder einen Zusatz vor-
nehmen; rasch füllt sich Seite auf Seite. Ein bis zwei Stunden am Nachmittag
pflegt der Sekretär nach seinen Angaben bei ihm zu schreiben, aber meist hat
Lorm schon vorher ebenso lange Zeit mit Diktieren zugebracht. Damals leistete
ihm seine Tochter am Vormittag den unentbehrlichen Hilfsdienst dabei.

Den schwierigsten Teil der Arbeit bot dem Sekretär im Verkehr mit Lorm
die Aufgabe, ihm — vorzulesen. Natürlich kann bei dem blinden und tauben
Manne von einem gewöhnlichen Mitteilen durch Worte keine Rede sein. Es
handelt sich vielmehr um ein besonderes System, das das geschriebene oder
gesprochene Wort ersetzen muss.

Beobachten wir das Verfahren, das gewiss einzig in seiner Art dasteht.

Lorm wünscht, dass ihm aus einer der auf dem Tische liegen-
den Broschüren vorgetragen werde. Er zieht einen Leder-
handschuh an die linke Hand. Dann legt er sich so auf das
Sofa, dass die Linke, die er bei aufgestütztem Ellenbogen
ungezwungen geöffnet in die Höhe hält, seinem Besucher
mit dessen Linker bequem erreichbar ist. Und nun beginnt
ein eigentümliches Berühren und Bestreichen, Zusammen-
fassen und Drehen der Lormschen Finger mit der (linken)
Hand des andern. Es ist eine Art Telegraphie ä deux mains.
Die grösste Schwierigkeit liegt darin , dass der Vorlesende
die Hand Lorms während dieser Berührungen etc. gar nicht
sieht, denn er muss mit den Augen dem Inhalte des Buches
folgen. Wollte er sich erst einen Satz einprägen, dann den-
selben dem Blinden und Tauben mittels der Finger kund-
geben, so ginge die Sache nur höchst langsam und schwer-
fällig von Statten. Es gilt also, mit der Linken auf eine
fremde Linke, ohne diese selbst im Auge zu behalten, thunlichst
ebenso rasch, wie die Worte im Geiste erfasst werden, die
Uebertragung vorzunehmen — und zwar Buchstabe für Buch-
stabe! Das klingt unglaublich und unausführbar, ist es aber
keineswegs. Nicht jeder dürfte sich freilich zum Vorleser
bei Lorm eignen. Länger als eine Stunde Fingertelegraphie vermag niemand zu
leisten, dann wird regelmässig eine Pause gemacht; Lorm selbst, dessen Hand
durch das fortgesetzte Berühren trotz des Handschuhes natürlich sehr empfindlich
geworden, zeigt sich infolge der angespannten Aufmerksamkeit regelmässig sehr
erschöpft, und nicht viel besser ergeht es seinem Vorleser. Die schwierigsten
philosophischen Werke, u. a. Kants Kritik der reinen Vernunft, waren zur Zeit
meiner Bekanntschaft mit Lorm an der Reihe —, ästhetische Untersuchungen, selbst
Latein und Französisch galt es, ihm zu vermitteln. Nun erleichtert ja Lorm die Auf-
gabe dadurch, dass er, sobald er herausbekommt, worauf die aneinander gereihten
Buchstaben hinaus wollen, namentlich Fachausdrücke vor Beendigung ausspricht.

Lorm hat sich diese Tastsprache selbst ausgesonnen, und es ist von höchstem
Interesse, zu beobachten, mit welcher Schnelligkeit ihm die erwähnten Be-
rührungen verständlich werden. Rastlos klettern die fremden Finger auf den

seinen herum; kein Laut
unterbricht die sonder-
bare Unterhaltung; dich-
ter und dichter nur füllt
der Cigarrenrauch der
Havanna des Tauben und
Blinden das Zimmer.

Lorms Tastsprache
ist folgendermaassen auf-
gebaut: Jeder Buchstabe
hat sein bestimmtes
Zeichen. Ein Berühren
der fünf Fingerspitzen
(Lorms), vom Daumen
angefangen, ergiebt der
Reihe nach die Vokale
a, e, i, o, u. Ein gleich-
zeitiges Aufsetzen des
Daumens und des Mittel-
fingers an die beiden
unteren Glieder (vom
Handteller aus gerechnet)
des Zeige-, Mittel-, Gold-
und kleinen Fingers kenn-
zeichnet b, d, g, h, c und
z ist die mit dem fremden
Mittelfinger ausgeführte
Diagonale auf dem Hand-
teller Lorms von links
oben nach rechts unten;

Hieronymus Lcnn.

Das Treppenhaus im neuen Grazer Theater.
 
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