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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Januar bis Juni)

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Grstes Blsrtt.

45. Jahrstang.

Dienslaß, 5. Mai 1903.

!04.

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WaAaufruf

der national-liberalen Partei.

Dec soeben geschlossene Reichstag hat Tage tiefer Er-
niebrigung ertebt. als cine rücksichtslose Mnderheit den
Devsuch unternahm. die Mehrheit zu tyrannisieren, ja die
Parlamentarische Tätigkeit überhaupt unmöglich zu ma-
chen. Er war der Schauplatz erbitterter Jnteressen- und
Klassenkänrpfe. Er stand von Beginn an unter dem
ausschlaggebenden Einfluß des Zentrums. Der Liberalis-
mus hatte nicht die il>m gebührende Geltung.

Zwar hat der Reichstag auf verschiedenen Gebieten Be-
deutendes geleistet. Die Stärkung der nationalen Macht-
stellung des Deutschen Reiches durch Heer- und Flotten-
gesctz, die Fortführung der Sozialreform durch die
neuen Jnvaliden-, Unfall- und Krankenversicherungs-
gesetze, durch die Gesetze über Gewerbegerichte und über
Lie gewerbliche Arbeit der Kinder, durch die Seemanns-
ordnung und zahlreiche andere Maßnahmen auf dem Ge-
biete des Arbeiterschutzes, endlich die Schaffung des Zoll-
tarifgcsetzcs als Grnndlagc der ncucn Handelsticrträge
sind Leistungen von großer und dauernder Bedeutung sür
unser Baterland.

Alle diese Arbeiten hätten aber nicht ohne die ent-
scheidende opferwillige Mtarbeit der nationallibcralen
Partci crreicht werden können. Sie hat mit Entschieden-
heit allen rückschrittlichen Versuchen Widerstand geleistet.
Sie hat in erster Linie mitgewirkt, als es sich darum
handelte, die Ordnung im Parlamente und seine ver-
fassungsmäßige Mitarbeit an den dringlichen Aufgaben
der Gesetzgebung ausrecht zu erhalten.

Mit dem Gefühle ernster Pflichterfüllung tritt die
Partei vor die Wähler. An den Wählern ist es setzt, durch
die Ausübung ihres Stimmrechts zu entscheiden, von wel-
chem Geiste die Vertretung des deutschen Volkes während
der nächsten Jahre beseelt sein soll. Sie tragen die Ver-
antwortung dafür, ob der neue Reichstag erfüllt scin wird
von dcm Bestreben, einseitige Berufs- und Klasseninteres-
sen, herrschsüchtige Machtgelüste konfessioneller, politischer
oder sozialer Sonderströmungen zur Geltung zu bringen,
oder von dem Gciste patriotischer Unterordnung unter
das Wohl des ganzen Volkes, von der Entschlossenheit,
redliche Mitarbeit leisten zu wollen an der Ausgleichung
der verschiedenen Jnteressen zum Besten des Gemein-
wohls.

Wirtschaftliche Fragcn stehen noch immer im Vorder-
grunde uitzd zwar umsomehr, als seit einigen Jahren
auch in Haudel und Gcwerbc dem erfreulichen Aufschwunge
der Vorjahre ein bedenklicher, hoffentlich bald vorüber-
gehender Rückschlag gefolgt ist. Die Landwirtschaft
kämpft seit langen Jahren schwer gegen andere, unter
günstigeren Bedingungen arbeitende Ländcr. Soweit es
der Staatsgewalt möglich ist, muß hier ein Zustand ge-
schaffen werden, der unter gerechtem Ausgleich der ver-
schiedenartigen Jnteressen von Landwirtschaft, Gewerbe
und Handel dem deutschen Erwerbsfleiß lohnende Arbeit
ermöglicht. Die Grundlage dazu ist in dem neuen Zoll-

tarife geschaffen, trotz aller ihm seiner Entstehung nach
anhaftenden Mängel. Er gibt der Reichsregierung das
notwendige Rüstzeug zum Abschluß neuer, uns günstigcr
langfristiger Handclsverträge, durch welche zugleich ein
besserer Schutz der Landwirtschaft gewährleistet wird.
Ohne solche Handelsverträge können Handel und Ge-
werbe ihre Ausgabe für das Volk nicht erfüllen. An ihnen
ist deshalb auch die Landwirtschaft auf das höchste interes-
siert. Denn nicht im Gegensatze zu einander, sondern im
Znsammenarbcitcn mit cinaüder haben die verschiedenen
Protuktionszweige unseres Volkes ihr Heil zu erblicken.
Die Verabschiedung von Handelsverträgen bildet daher in
den nächsten Jahren eine Ler Hauptaufgabcn der dcntschen
Politik und Gcsetzgebung.

Der gcwerbliche Mittclstand in Stadt und Land ringt
seit Jahren um sein Gedeihen. Das Gesetz über die Or-
ganisation des Handwerks hat die geeigneten Wege so-
wohl der Selbsthilfe, wie der Erziehung und Fortbildung
eines tüchtigen Nachwuchfes erschlossen. Es bietet die
Gewähr der sachgeinäßen Vorbereitung weiterer Gesetzes-
und Verwaltungsmaßnahmen unter Mitwirkung der Be-
teiligten selbst. Die gesctzliche Sicherung dcr Bauforde-
rungcn muß durchgeführt, den Answüchsen im Ausver-
kaufs- und Auktionswesen muß durch Ausbau des Ge-
setzes gegen den unlantcre» Wettbewerb wirksam ent-
gegengetreten werden.

Die Verhältnisse der mittIeren u n d unteren
Rcichsbeamtcn erheischen unsere stetige Fürsorge. Die ge-
werblichen und kaufmännischen, Privatbeamten stellen I>e-
deutsame wohl erwägenswerte Forderungen. Die Ein-
führung der Kaufmannsgcrichte ist eine dringliche Auf-
gabe des neuen Reichstags.

Soweit Lie Börscngcsctzgcbung dahin geführt hat,
TreuundGIauben im Handelsverkehr
zu untergraben, ist eine zweckmäßige Reform notwendig.

Die im Jnteresse der Arbeitcr in Angriff genommene,
von menschenfreundlichem Geiste getragene, vom Auslande
bewunderte sozialpolitischc Gcsetzgcbung bedarf der weite-
ren Verbesserung und des inneren Ausbaues, unter Be-
rücksichtigung der praktischen Verhältnisse des Wirtschafts-
lebens und des ausländischen Wettbewerbes. Die Ver-
s i ch e r i'. n g der Witwen und Waisen und die
Fortführung gemeinsamer Einrichtungen zur Pflege des
Friedens zwischen Arbeiter und Arbeitgeber stnd als Ziel
festzuhalten.

Es ist eine Ehrenpflicht des deutschen Volkes, durch
Reviston der Militärpensionsgesetze die Lage der Militär-
Jnvalidcn zu erleichtern und für unsere unterstützungsbe-
dürftigen Kriegsteilnehmer zu sorgen.

Vorbedingung für eine gedeihliche Tätigkeit auf allen
Gebieten ist aber die Erhaltnng des Friedens und der nö-
tigen B. icgnngsfreiheit für deutschc Arbeit, Jntclligcnz
nnd Umcrnchmungslust im Wettstreit mit den übrigen
Nationen. Das ist nur möglich durch Erhaltung und
Stärkung der deutschen Macht und des deutschen An-
sehens. Ein mächtiges Deutsches Reich muß daher immer
das erste Ziel eines wahrhaft Patriotischen Deutschen sein.

Die Gegner stnd zahlreich, sogar im Jnnem zeigsn sie sich
in Gestalt der nationalpolnischen Propaganda und der un-
seligen partikularistischen Strömungen, welche die verschie-
denen auf einander angewiesenen Stämme gegen einander
zu hetzen sich bemühen. Die nationalliberale Partei
wird auch in Zukunft überall, wo es gilt, antinationale
Bestrebungen zu bekämpfen, in erster Linie stehen.

Schwer und gewichtig sind die Aufgaben, welche der
neue Reichstag zu erfüllen hat, und sie entbehren wahr-
haftiglich nicht des idealen Jnhalts:

Pcwahrnng nnd Stärkung dcr Macht und dcs An-
schens von Dentschland, in unverbrüchlichcr Trcue zn
Kaiser nnd Reich,

Pflege und Wcitcrbildung unscrer frcihcitlichcn
Einrichtungc» nnd Knlturcrrungenschaften, Anfrcchter-
haltung des bcstehcnden Rcichstagswahlrechtes und der
Koalitionsfrcihcit,

Ansgleichung dcr vcrschiedcnartigcn wirtschaftlichen Jn-
teressen zum Schntzc der nationalcn Arbeit,

cinsichtige und krastvolle Bctätigung des Staatcs,
in Gesetzgcbung und Verwaltung, zu Gunsten der wirt-
schaftlich Schwachcn, der mindcr bcgütcrtcn Nolksklas«
sen,

das sind Gedanken, wclche jeden Vaterlandsfreund er-
füllen und ihn zwtngen müssen, seine ganze Kckaft in ihren
Dienst zu stellen.

Die Sozialdemokratic verhetzt die Arbeiter; sie läuft
Sturm gegen die Grundlagen unserer Kultur, gegen
Monarchie, Religion, Familie, Eigentum; sie hat sich durch
ihre Tätigkeit im Reichstage als Feind des sozialpolitschen
Fortschritts erwiesen.

Das Bestreben, die Staatsgewalt, die Schule, Kunst
und Wissenschaft, das gesamte Volksleben nltramontanen
Machtgclüsten zu unterwerfen, wirkt immer verhängnis-
voller.

Die verschiedönen Vcrufsklassen werden durch Ueber-
treibung von Sonderinteressen gegen einander aufgewühlt,
als seien sie nicht alle Glieder eines Volkes.

Um so dringender ist die Verpflichtung sür Alle, welche
diese Gefahren erkennen und eine ruhige, friedliche Ent-
wicklung auf der Grundlage unserer, in heißen Kämpfen
errungenen nationalen und liberalen Güter anstreben,
es an sich nicht fehlen zu lassen. Jeder Einzelne hat die
ernste Pflicht, sein Bestes einzusetzen, um diese Güter
durch siegreiche Wahlen zu sichern, denn nur so wird das
Gedeihen unseres Volkes gesichert sein.

Darum gilt es, die Trägen aufzurütteln, die Lauen
zu begeistern, die beiseite Stehenden zu gewinnen, die
Verhetzten aufzuklären, sie alle mit dem festen Entschlusse
zu erfüllen, tätig zu sein im Dienste der guten Sache.

Deutsche Wähler! Seid eingedenk der Bedeutung der
Wahl. Sorgt dafür, daß Männer gewählt werden, welche
als oberste Richtschnur für ihr ganzes Verhalten, als ein-
zigen Leitstern sür ihre Bemühungen nur anerkennen das
Wohl dcs ganzcn tcnre» Vatcrlandes.

Der Allgenieine Delegiertentag der nat.-lib. Partei.

I. A.: Dr. H a m m a ch e r.

Kleine Zeilung.

— Ter Raubmördcr dcs Fräulein Belser in Franken-
thal vcrhastct. Jn Rudolstadt wurde ein Jndividium fest-
genommen, das eingestanden hat, den in der Nacht von

2. auf 3. Januar 1902 an der 50 Jahre altein Lehrerin
des Kindergartens der Zuckerfabrik, Fräulein Belser -
Frankenthal, von Mannheim gebürtig, verübten
Raubmord ausgeführt zu haben. — Ueber die Festnahme
Raubmörders meldet die „Rudolst. Z.": Ein guter
Fang glückte dem Schutzmann Müller in Rudolstadt. Dieser
öeobachtete seit einigen Tagen ein Jndividuum, das sich
^ort umhertrieb und in den Häusern bettelte. Bereits
arn Sonntag war der Jünger der heiligen Hermandad
den Stromer aufmerksam geworden, konnte ihn aber
^icht auf frischer Tat ertappen. Der Kunde hatte Lunte
gerochen und zog es vor, momentan zu verduften. Er
hatte jedoch unserer Residenz noch lange nicht Valet ge-
!agt. Jm Gegenteil, das hiesige Pflaster schien ihm zu
gLiallen, sodatz er seinen Aufenthalt noch verlängerte.

Msttwoch wurde der Vagabunb von neuem von dem
^chutzmann am Saaldamrn „gesichtet", der denn auch
sileich die Derfolgung des sauberen Gastes aufnahm. Letz-
^rer zog sofort Leine, und nun entspann sich ein kleines
^ennen, um einen noch nicht näher vereinbarten Preis.
Dem Schutzmann gelang es infolge seiner Ortskenntnis,
ieinem Vorläufer den Weg abzuschneiden,' und als letz-
^rer bei der „Krone" um die Ecst rannte, fand er von
^eiten des Schutzmanns schon das cntsprechende Entge-
öenkommen. Nach kurzer Vorstellung traten beide Schnell«

läufer den Weg nach der inneren Stadt an, wobei der
Telinyuent noch zweimal nach der „Freiheit, die er
meinte", strebte. Bon der Wache aus wurde der Vaga-
bund in Untersuchungshaft geführt. Die sofort ange-
stellten Untersuchungen ergaben, daß man es mit einem
schon seit einem Jahre gesuchten Raubmörder zu tun
hat. Das angestellte Verhör, bei welchem der Jnhaftierte
sich vergeblich aufs Leugnen legte und sich widersprach,
ergab den überzeugenden Beweis seiner Jdentität mit dem
Gesuchten. Er ist aus Frankenthal gebürtig und hat
am 3. Januar 1902 eine Kindergärtnerin ermordet. Auf
die Ergreifung des Mörders war eine Belohnung von
2000 Mk. ausgesetzt, die nunmehr dem Schutzmann Mül-
ler zufallen wird. Die Ermordete, Frl. Belser, wohnte
in einem der Zuckerfabrik gehörigen, an der Flomers-
heimerstraße gelegenen Hause; sie wurde am Morgen des

3. Januar auf der Veranda ihrer Wohnung tot aufgefun-
den. Die nähere Besichtigung ergab, daß sie durch Stichs
mit einem dolchartigen Messer getötet worden war. Der
Mörder hatte das arme, wehrlose Weib furchtbar zuge-
richtet. Wurden doch nicht weniger als zehn Stichwunden
gezählt, von denen drei das Herz und einer die Lunge ge-
troffen haben. Jeder einzelne diefer vier Stiche war töt-
lich. Der Täter hatte es zweifellos auf eine Beraubung
der Belser abgesehen gehabt. Er mußte mit deren Ver-
hältnissen vertraut gewesen sein. Vertraut mit der Oert-
lichkeit — die Tote bewohnte die eine Seite eines ein-
stöckigen sogenannten Doppelhauses ganz allein — hätte
der Mordbube, nachdem er vorher die in nächster Nähe
des Hauses befindliche Straßenlaterne verlöscht hatte, die

Arme entweder durch die Hausglocken oder durch das von
ihm bei dem Versuche, in die Wohnung zu dringen, ver-
ursachte Geräusch aus dem Bett gelockt. Als sie, mit
einem Leuchter versehen, an der nach der den Eingang
bildenden Veranda führenden Türe mit gezückter Mord-
waffe empsangen worden. Die Ersparnisse der Belser
warn noch unberührt vorgefunden worden.

— Speyer, 3. Mai. Einen Akt rohestcn Bandalis-
mus verübten in der vorletztcn Nacht einige bis jetzt noch un-
bekannte Jndividuen im Domgarten dahier. Zwei von den
schönen Figuren, welche die vier Jahreszeiten darstellen, und
zwar Herbst und Winter, wurden umgcworfen und demoliert.
Wie es scheint, hat man auch versucht, die üeiden anderen zn
zerstören, jedoch ohne Erfolg.

— München, 2. Mai. Der diesjährigen Bockprobe im
Hofbräuhause wohnten außer vielen sonstigen höheren
Beamten und Offizieren fast alle Minister bei, während der
Regierungspräsident von Oberbayern, Ritter von Schraut, die
Ehren des Hauses erwies. Unter den Anwesenden befanden
sich der Ministerpäsident Freiherr v. Podewils und der frühere
Ministerpräsident Graf Crailsheim. Diese am Vormittag be-
gonnene gesellige Unterhaltung in solcher Eigenart, wie dies
eben nur in Baherns gemütlicher Hauptstadt rnöglich ist, ging
erst in den Nachmittagsstunden zu Ende.

— Ein Peinlicher Borfall ereignete sich, wie die „Tägliche
Rundschau" mitteilt, lürzlich in Münche n. Als Prinz Georg
von Bayern seinen vor einem Geschäftshaus haltenden Wagen
besteigen wollte, sprang plötzlich, während der Leibjäger denl
Wagenschlag öfsnete, ein den besseren Ständen angehörendes
junges Mädchen in den Wagen und verließ ihn nicht,
bis schließlich der Leibjäger Gewalt anwandte und das Mäd-
chen an den Armen herauszog. Einem Schutzmann übergeben,
erklärte die Sistierte, sie habe sich nur einen Scherz erlaubt.
Der Borfall, der einen großen Menschenauflauf zur Folge
hatte, wird für das vorwitzige Mädchen noch ein Nachspiel voir
Gericht haben. ^
 
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