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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Januar bis Juni)

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»» bestimmten Tagen wird keine Verantwortlichkeit übernommen. — Anichlag der Jnierate auf den Platattafeln der Heibelberger Zeitung und den städtischen Anschlagstellen. Fernsprecher W.

DNllttstilg, 25. ZNl 1963.

ir stos Nlrr'l.

4S. Mzmz. — -U M

Der Wahlaufruf des Zentrums.

Tas Zentrum hat viele Gestchter. Jn dem kurzen
Wahlruf, den es zur Stichwahl hat ausgeben lassen, trägt
es die Maske des V o I k s s r eu n d e s. Nur die eine
Furcht hat es, die V o I k s i nt e r e s s e n könnteu durch
einen Beamten nicht recht vertreten werden. Zwar ist nie
etwas bekannt geworden, daß die badische Regierung den
badischen Reichstagsabgeordneten Vorschriften machte,
oder datz die badische Regierung immer mit den Absichten
ber Reichsregierung sich deckt, oder daß Herr Oberamt-
Mann Beck durch irgend etwas sich hätte je leiten lassen
als durch seine wohlermogene Pflicht und durch die gewis-
senhafteste Prüfung der Fragen. Das haben auch die so-
zialdemokratischen Führer zugegeben. Es gehört in un-
jern Zeitläufen ein hoher Grad von Unerschrockenheit und
Geslnnungstüchtigkeit-dazu, liberalen Grundsätzen tren zu
dleiöen. Allein gleichviel! Hcrr Beck ist Oberamtmann
und- Regierungsmann ist kein Volksmann.

Wie ist uns doch? Wir meinen gelesen zu haben, datz
das Zentrum auf die Reichsregierung großen Einflutz zu
haben sich berühmt, grötzeren, als dle -nationatliberale Par-
tei heute dort besitzt. Wem zu Lieb hat Herr von Bülow
die Aushebung des Jesuitengesetzes versprochen? Wem zu
Lieb werden Klöster gebaut? Wem zu Lieb besucht Herr
von Waldersee den Jesnitengeneral? Doch gewitz nicht,
um der liberalen Partei einen besonderen Gefallen zu
tun. Nein, wenn überhaupt die kuriose Unterscheidung
gemacht werden sollte, ob das Zentrum oder die Nationak-
kiberalen so etwas wie Regierungsvertreter ist, und wer
die Regierungsinteressen in seiner Richtung zu schieben
inistandc ist, so ist cs die Partei, welcher Herr Barth sich
angeschlossen hat. Es scheint mir natürlich ganz unrich-
üg, zn behaupten, datz der Rei-chskanzler einer Partei an-
gehört; er sucht seine Vorlage durchzudrllcken, so gut er
kann, nnd nimmt dabei die diplomatische Rücksicht auf die
Stärke der Parteien, und er zahlt dem willigen Zentrum
mit einigen Gegenkonzessionen — mnncher nannte dies
Geschäft bisher Kuhhandel, er sollte sich vor so unzeitigen
Scherzen hüten.

Wir können ja auch mit Vergnügen darauf hinweisen,
datz im Programm des Zentrums eine große Anzahl For-
derungen enthakten sind, die von anderen Parteien und
ouch der unsrigen in gleicher Weise vertreten werden, die
uationale Fürsorge für Heer und Marine, die Sorge sür
die Erhaltung eines Mittelstandes, sür die bedrängten
kleineren Geschäftsleute, die gleichmäßige Teilnahme sür
Tndustrie und Landwirtschaft, die Erhaltung unseres
Wahlrechts. Man könnte ja sröhlich sagen, daß das Zen-
krum die nationalen und liberalen Aufgaben der Politik,
die gewiß nicht in seiner ursprünglichen Natur lagen,
uufgenommen hat, daß es die vielgerühmte Wandlung
LU einer nationalen Volkspartei durchzumachen sich be-
Uttiht. Fst aber das Zentrnm mirklich eine Volkspartei?
^ertritt es die Jnteressen des ganzen deutschen Volkes?
-'Gnn z. B. anch jeder Protestant wirklich für daS Zen-
krnm stimmen, wie es die Partei gelegentlich behauptet?
Ein Blick auf die Behandlung der gemischten Ehen und
der gemischten Schulen kann jeden belehren, wic er hier-
über zu denken hat. Das Zentrum ist und bleibt eine
Eonfessionelle Partei! Und weil es eine konsessio-
sielle Partei ist, darum erhebt es immer wieder das Ge-
ichrei, ihre Kirche sei bedroht, die feindlichen Parteien
kricben Verhetzung, wie die neueste Redensart lautel;
uur damit kann das Zentrum immer wieder die Kampf-
kust anstacheln. Besriedigt ist es nur, wenn es die Herr-
schaft hat.

Es war von je die Behanptung des Zentrums, daß dte
^irche, d. h. die herrschenden Geistlichen, am besten wüß-
kön, was dem Staate not tut — er braucht einfach
ulles zu tun, was die Kurie vorschreibt, — und was dem
kkolke not tnt, es braucht nur im Pfarramt zu fragen,
ü>as es zu machen hat; und alles verläuft in schönster
Drdnnng. Freilich im Kirchenstaat und in Spanien ha-
üen die klerikalen Regierungen die heillosesten Zustände
s>ervorgerufen, die Länder, welche der Kirche am meisten
^ntertan waren, wie Jtalien und Frankreich, zeichnen sich
^llsitz nicht dnrch Liebe znm K'lerue- ans, die Vertreibung

Klostergeistlichkeit ist d a gewiß nicht aus Liebe ge-
ichehen, und die Stimmen aus dem Vatikan fordern das
^olk dieser Länder vergeblich zur Bildung einer kirch-
"chen Partei auf. Jn Deutschland haben wir seit einiger
^eit keine rechte Probe mehr von einem klerikalen Re-
süwent. Fhr Wähter, wollt Ihr diese Probe machen?
Wnn wählt nnr einen von dem granitnen Zentrums-
üwm, i,i dem alle Freiheit gesangen liegt. Tann braucht
'ütr auch nicht zn snrchten, daß man Ench kirchenfeindlich
^onnt, wenn Fhr liberal wählt. Tenn wer dagegen

streitet, daß der katholische Pfarrer ein Politischer Agent
wird, daß er den Stimmzettel seiner Gemeinde im Auf-
trage L-er Qberen vgl. die Mannheimer Zentrums-
versammlung — in die Hand drückt, daß in einer Sakristei
Wahlgeschäfte abgemacht werden, wie z. B. in Regens-
burg, dem wird der Vorwurf zugeschleudert, er sei „ein
Feind der Kirche", und wer ein Feind dieser Kirche, dem
wird wieder der Vorwurf gemacht, er sei ein ganz gott-
loser Mensch. Wer den Zentrumszettel dagegen zur
Wahlurne trägt, der „streitet für unsern Herrgott". Wir
halten ein derartiges Treiben sür unsittlich und gottlos.
Wie lange wird man im deutschen Volke gkauben, daß
der den Volksinteressen wahrhaft dient, der der Zen-
trumsparoke gehorcht, weil sie „himmlischen Segen ver-
heißt?" Ausdrücke derart, wie wir sie anführen, waren
in den Wahlausrufen zu kesen.

Deutsches Reich.

— Nach Newyorker Kabelmeldungen sind die Stamm-
aktien des M o r ganschen Schiffst r u st s in den
ketzten Tagen bis auf 2 Prozent, die Vorzugsaktien bis
auf 20 Prozent gefa11en. Es scheint sonach, daß man
auch in Amerika die Hofsnnng auf eine gedeihliche Ent-
wicklung des mit so ungehenrer Reklame angekündigten
Unternehmens aufgegeben hat.

Bndcn.

L<7. V i l l i n g e n , 2-1. Juni. Der Großher -
zog und die Grotzherzogin trefsen mit Gefolge
nm Samstag früh nm Bnhnhof Nntcrkirnnch zu zwei-
tägigem Aufenthalt im Waldhotel ein. Die Wfährt
dürfte am Montag früh wieder erfolgen.

Prcnßen.

Berlin, 24. Juni. Der „Neuen Pol. Korresp."
zufolge liegt die Kanalvorlage umgearbeitet dem
Kabinett vor. Danach wäre also zu erwarten, daß die
„wasserwirtschaftliche Vorlage" den neuen Landtag be-
schäftigen wird, wenn — nicht wieder' neue Hindernisse
auftreten.

Aus der -RarSsrrrster Zcilung

Karl s r nhe , 24. Juni. Heute Vormittag 10 Uhr
ist die Großherzogin gleichzeitig mit der Gräfin Trani
nach Karlsruhe gereist, wo die Jrau Gräfin im Großher-
zoglichen Schlosse abftieg. Jhre Königlichen Hoheiten
wurden bei den Erbgrotzherzoglichen Herrschaften zur
Frühstückstafel geladen, wo sich anch die Prinzessin Wil-
helm, der Prinz und die Prinzessin Max befanden. Die
Rückkehr der Großherzogin »nd der Gräsin Trani nach
Baden -ersolgte heute Abend nm halb 7 Uhr. Der Groß-
herzog empfing heute Vormittag 10 Uhr den General-
mnsikdirektor Mottl nnd nahm von 11 Uhr an den Vor-
trag des Gencrallentnants und Generaladjntanten von
Mnller entgegen. Nachmittags hörte Seine Königlichs
Hoheit den Vortrag des Legationsrats Dr. Seyb. Heuts
Abend werden der Erbgroßherzog nnd die Erbgroßher-
zogin für einige Stunden na-ch Sctzloß Baden kommen,
nm von dem Großhcrzog Abschicd zu nehmen. Dieselben
werden nach Schweden reisen, um einige Wochcn bei Jhrcr
Königlichen Hoheit der Kronprinzessin Viktoria zn ver-
weilen.

Die Neichstagswalilen.

— Die S o z i a I d e m o k r at i e hat im ersten Wahl-
gange im Rei-ch ingesamt 2 911 317 Stimmen erhalten,
d. h. 800 000 mehr als vor fünf Jahren.

Karlsruhe, 24. Juni. Zur Angelegenheit der
Böhtlingkzettel sollte nach der erwähnten Zen-
trumserklärung die Buchhändlersirma Müller und Gräff
die Wahlzettel aus Heidelberg erhalten und an die
Jungliberalen Fischer und Kölsch weiterbefördert haben.
Nachdem die letztgenannten bereits Einsprache erhoben
haben, erklärt nun auch die Firma Müller und Gräff,
daß sie allerdings eine Anzahl Böhtlingkzettel in einem
20 Pfg.-Bries aus Heidelberg zugeschickt erhielt, dieselben
aber sogleich dem Papierkorb anvertraute. Damit dürfte
die Sache erledigt sein.

IN1 K a r l c- r u h e , 24. Iittii. Ter „Bad. Beob."
und mit ihm dis gesamte Zentrumspresse hat versucht,
die L e n d e r s ch e Erklärung als einen Vertrauen-s-
bruch hinznstellen, da d-ieselbe gar nicht für die Oeffent-
lichkeit bestimmt gewesen sei. 'Nun erklären die beteiligten
Personen, Kommerzienrat Klumpp, Bürgermeister Jung
nnd Oekonomierat Würtcnberger in Gernsbach, dasz Len-
der rückhaltslos erklärte, er werde seinen Standpunkt aüch
öffentlich erklärm. Lender schrieb seine Erklärun-g mit

Tinte auf einen großen Bogen Papier (nicht wie der
„Beob." behauptete, mit Bleistist auf einen Fetzen) und
überreichte es der Deputation mit den Worten: „So,
meine Herren, mit dem können Sie machen, was Sis
wollen." Ter Redakteur des „Beob." hat bereits eine
Ehrenerklärung abgegeben.

11(1. K arls r uhe , 24. Iüni. Mit einer imposan--
ten, wohl 3000 Köpfe zählenden Versammlung fand ge-
stern die Wahlkampagne in der Residenz ihren Abschlutz.
Nachdem der Borsitzende Professor Goldschmit die Ver-
sammlnng erössnet hatte, entwarf der Reichstagsabgeord-
nete Tr. Semler-Hamburg, noch unter dcm ttnmittelbarcn
Eindruck der letzten Kaiserrede, ein Bild der politischen
Pcrsönlichkeit Bassermanns, seiner Tätigkeit als Abge-
ordneter und Fraktionsführer. Seine Worte zeugten von
der herzlichen Berehrung, die dem nm seine Partei und
die Gejamtheit hochverdienten Führer der Nationallibera-
len von seinen Partei- und Fraktionsgenossen entgegenge-
bracht wird. Er betonte vor allem auch die Seiten an
Bassermamn' menschlichem und politischeni Charakter —-
zwei Dinge, die sich ja überhaupt gegenseitig ergänzen —
die es anch den Gegnern aus den Reihen der bürgerlicheir
Parteien ermöglichen müssen, ihm im Kampf mit denr
Vertreter der Sozialdemotratie die Stimme zu geben.
Nach ihm appellierte Herr Kühn-Mamcheim in einell
schwungvollen, oft hinreißenüen Rede an die vaterlän-
dische Gesinilnng d-er Wähler des 10. Wcchlkreises. Schrist--
steller Ammon wnßtc öie Geister zu entslammen mit dem
Hinweis auf die großen Zukunftsziele unseres' deutschen
VaterlandeS, sür die im sozialdemokratischen Lager kein
Verständnis zn sinden ist. Sodann sprachen die Vertreter
der Parteien, die es über sich vermocht haben, im Hin-
btick aus den gemeinsamen Feind, in der Erkenntnis, daß
es mm gilt zu vergessen, was uns trennt, und zu erkennen
nnd betonen, was uns einen kami, die Parole ciuszuge-
ben: Für den Kandidaten der Ordnimgspartel! Gegen
den Kandidaten des Nmsturzes! Stadtrat Tr. Weill, d-er
Führer des badischen Freisinns, hob dabei besonders her-
vor, daß von Seiteu der Sozialdemokratie die Lösimg der
wichtigsten Aufgabe im kommenden Rcichstag, die Schaf-
fimg günstiger, langfristiger Haiidelsverträge, in Frags
gestellt sei imd der Wortsührer der Konservativen nnd des
Bundes der Landwirtc, Herr Kern, legte den Hauptton
auf Vassermanns Mittelstandspolitik. Beide Redner tra-
ten, ohne ihren in Einzelheiten abweichenden Standpunrt
zu verschleiern, mit der Wärme ehrucher Ueberzeugung
für den Kandidaten ein. Bassermnnn selbst gab nochmals
einen kurzen Abriß seines Programms mrd wies hin auf
seine durch die während vieler Jahre ausgsübte politische
Tätigkeit Znr Genüge gckemlzeichiiLten Anschauungen.
Seine ruhige, jede agitatorische oder gar demagogische
Phrase cvrschmähendc ünd dvch, oder ge'rade dadurch
zündende Beredtsamkeit versagte auch diesmal nicht.
Riinutenlanger Beifallsjubel durchbrauste den Saal, als
er geendet hatte, nnd er ernente sich, als Professor Gold-
schmit in seinem Schlus>nort der srohen Hosfmmg fnr dis
Stichwahl Ausdrnck gab, die wohl alle Anwesenden, das
Häufchen Gegner ausgenommen, der prcichtigen Versamm-
lnng beseelte.

Sinsheini, 22. Juni. Am letzten Sonntag hat in
Eppingen eine Vertrauensmänner-Versammlung des
Bundes der Landwirte stattgefunden und Be-
schluß gefaßt über die Stellungnahme des Bundes zun
Stichwahk. Es war nach dem „Volksb." beabsichtigt,
einen Beschluß zugunsten des in Eppingen anwesenden
Zentrumskandidaten Frhr. v. Mentzingen, der dann den
Versammelten vorgestellt werden sollte, zn fassen, die Pa-
roke sollte kauten: für Mentzingen stimmen. Aber die
Sitzung verlief nicht so glatt, als erhofft wurde; es stieß
dieser Antrag vielmehr auf heftigen Widerstand, ein Mit-
glied verließ sogar unter Verzichtleistung aus seine Mit-
gliedschast den Saal. Begründet wurde der Antrag haupt«
sächlich durch die bereits mehrfach widerlegte UnwahrheiP
die Liberalen hätten schon vor der Hauptwahl ein Ein-
treten für den Zentrumskandidatew-beschlossen, falls der
Bundeskandidat mit demselben in Stichwahl komme. Es
saßen Männer in der Versammkung, denen von kompeten-
ter liberaler Seite vor der Hauptwahl die Versicherung
gegeben wurde, daß ein derartiger Beschluß noch nicht ein-
mal erwogen, geschweige denn gefaßt sei, daß, wenn etwas
ähnliches verkautet war, es sich lediglich um eine private
Meinungsäußerung handlen könne, gerade wie sogar Ver-
trauensmänner des Bundes schon vor der Hauptwahl
ihre Meinung für den Zentrumskandidaten bekundet ha-
ben, ohne daß man jedoch liberalerseits die Bundesleitung
dafür verantwortlich gemacht und eine solche persönliche
Ansicht als Beschluß ausposaunt hätte, obwohl man er--
 
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