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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lohmeyer, Julius: Alpenglühen, [4]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0110

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50

MODERNE KUNST.

wieder erscheinen zu sehen. Der Rat hatte jedoch strengste Ruhe anempfohlen,
um Edith binnen Wochenfrist jedenfalls wieder reisefähig zu machen.

Ruthard war es oft, als habe sich sein ganzes Wesen wieder emporgereckt.
Wo waren denn alle die hochmütigen Weltfluchtgedanken geblieben? Das ganze
stolze Gebäude blasierter Menschenverachtung war binnen wenigen Stunden vor
ihm zusammengebrochen, und neue Lebenslust bewegte ihn. Er fühlte, hier half
kein Verspotten seiner „thörichten“ Gefühle mehr, kein Selbstironisieren. Es
war einmal so. Heimliches Hoffen und Aufjubeln, und dann wieder verzagendes
Sehnen, Fürchten und Bangen, kurz alle Unrast einer grossen Leidenschaft war
triumphierend wieder in die Oede seiner erstorbenen Brust eingezogen. Oft
freilich, wenn er des vertrauten Augenspiels zwischen Onkel und Nichte an
jenem ersten Tage ihrer Begegnung, bei Eintreffen von Ottos Briefe, gedachte,
überfielen ihn aufs neue eifersüchtige Befürchtungen.

Auch der Rat hatte es ihm mit seiner hochgestimmten, geklärten Welt-
anschauung mehr und mehr angethan. Er fühlte, dass dieser heiterstille Mann
in seinem gesättigten Weltbehagen und Lebensmut alles das besass, was ihm
auf der Welt zur inneren Harmonie gebrach.

Er konnte sich oft selbst nicht mehr verstehen. Berauschende Zukunftsbilder
tauchten unaufhörlich vor ihm auf. In dem Abglanz von Ediths Blicken sah er
die Schönheit der Welt aufs neue um sich her aufleuchten.

Ruthard hatte schon gestern das einsiedlerische Mahl in dem kleinen Pavillon
aufgegeben und sich neben dem Rat servieren lassen. Für den Nachmittag
hatten sie einen Aufstieg zum grossen Widderhorn verabredet.

Während des Diners musste ihm der Rat mitteilen, dass der verstauchte
Fuss seiner Nichte heute eine noch stärkere Anschwellung zeigte. Er habe
sie jedoch heute auf den Balkon ihres Zimmers hinausgebracht, damit sie die
frische Luft nicht länger zu entbehren brauche.

Das Diner wurde nun für Ruthards Ungeduld zu wahrer Qual. Endlich
stand er, unter dem Vorwände, sich für die Tour rüsten zu müssen, rasch auf und
eilte in sein Zimmer hinauf, von dessen Austritt er Edith auf ihrem Seitenbalkon
in der unteren Etage beobachten konnte. Sie ruhte in lichtem Morgenkleide, in
ihren blauen Shawl gehüllt und in ein Buch vertieft, auf einem hinausgeschobenen
Rollstuhl. Vergeblich hoffte er, einen verlorenen Blick von ihr zu erhaschen.

Jetzt aber, da der Rat bereits unter den Platanen fahrtgerüstet erschien,
musste auch er sich in aller Eile für die Bergfahrt ausstaffieren, um den alten
Herrn unten nicht länger warten zu lassen. —

Sie schlugen bei ihrem Aufstieg einen dem Rat von früher bekannten, be-
quemeren Seitenweg ein, der die Tobelschlucht links liegen liess.

Als Ruthard heute bei dem Neubau wieder vorüberging, an dem er jüngst
mit so melancholischen Betrachtungen und der Frage: „Wer hat denn überhaupt
noch den Mut, sich auf dieser Welt ein Haus zu bauen?“ vorübergewankt war,
unterbrach er seine Gedanken mit einem lächelnden, ja verwunderten Kopf-
schütteln. Er hoffte, sich ja nun selbst wieder ein neues Haus auf dieser wanken-
den Welt bauen zu können.

„Verzeihen Sie dem Manne, verehrter Herr Professor,“ begann der Rat zur
Ruthard etwas unvermittelt, „der, wie Sie bereits erfahren haben, nun einmal
das Bedürfnis hat, von seinem bischen Alterserfahrung andern, die ihm dessen
wert sind, selbst Unerbetenes abzugeben, wenn ich eine Frage an Sie richte.
Beantworten Sie mir diese ganz offen: „Warum heiraten Sie nicht wieder?“

Ruthard schwieg zögernd. Ein ärgerliches Vermuten stieg in ihm auf.

„Sie müssen,“ fuhr der Rat fort, „Ihrem Leben wieder ein Schwergewicht zu
geben versuchen, sich neue Pflichten schaffen, müssen wieder wissen, für wen Sie
leben. Das Leben in den Kreisen, in die Sie Ihr Junggesellentum geführt, widert
Sie an. Ein reines, hochgesinntes Weib, ein schönheitsbegeistertes, das an Ihrem
Schaffen regen Anteil nimmt, kann Ihnen allen Wert, alle Schönheit der Welt
wiederschenken. Glauben Sie dem altei. Manne, den das Leben arg geschüttelt
hat, dass er Recht hat. Der Mensch gleicht doch schliesslich einem Baume,
der immer und immer wieder ausschlägt, und, so verständlich mir im Grunde
Ihr gewiss pietätvolles, neuen Lebensgenuss abwehrendes Einsiedlertum sein
mag, so wird es doch schliesslich Ihre Pflicht, sich für Ihre Kunst auf voller
Lebenshöhe zu erhalten.“

Ruthard hatte die treu gemeinte Mahnung des alten Rates verdrossen über
sich ergehen lassen. Die Vermutung, dass der fürsorgliche Onkel aus seinem
Begleiter spräche, drängte sich ihm von Minute zu Minute verstimmender auf
und verletzte ihn für Edith. So steckte schliesslich hinter all der zudringlichen
Weltweisheit der rechnende Vormund! Was hätte er noch vor einer Stunde
für die Gewissheit seiner Zustimmung zu seinen heissesten Hoffnungen gegeben,
und jetzt, da ihm diese entgegengetragen wurde, schritt er in seinen Gedanken
bereits über den Alten hinweg und hatte selbst alle Mühe, sich den Vollwert
Ediths auf Momente noch aufrecht zu erhalten. Aber die Gelegenheit schien
ihm günstig. Er wollte noch mehr aus dem Alten herausholen.

„Von Herzen, mein verehrter Herr Rat,“ antwortete er, „bin ich Ihnen für
alle Ihre Teilnahme dankbar und kann allen Ihren Mahnungen nur voll zu-
stimmen. Aber glauben Sie mir, es ist in den Kreisen, in die mich das Leben nun
einmal geworfen hat, nicht leicht, eine solche Wahl, wie Sie Ihnen und uns selbst
vor allem erwünscht scheint, zu treffen; und schliesslich, ohne volle liebende Be-
geisterung eine solche Verbindung einzugehen, widerstrebt mir aufs äusserste und
würde auch nicht die erwünschte Wirkung für mich haben. Unsere heutige Mädchen-
erziehung verbildet ja leider in ihrer Oberflächlichkeit die Bestveranlagtesten.“

„Ganz gewiss haben Sie darin nur zu sehr Recht. Ja, ein solches Glück
muss eigentlich aus den Wolken fallen. Ich wünsche Ihnen nur, dass Sie es
aufhöben, wenn es ihnen einmal in den Schooss fallen sollte.“

Nun schwieg Ruthard anhaltend verdrossen.

Unter den weithin verstreuten, mächtigen Felsklötzen der Haide erhob sich
weithin sichtbar die verwitterte Gestalt einer sturmzerzausten Wettertanne, die
der Rat als das erste Ziel ihres beschwerlichen Aufstieges bezeichnet hatte.
Grau, von Gewittersturm und Hochwetter zerfetzt, von Rissen und Rüfen bedeckt,
mit einer vom Blitz zerschmetterten Krone, breitete sie die weitausladenden
Aeste, von wallenden Bartflechten umhangen, über eine steile Felsenkante aus.

„Sehen Sie diesen Märtyrer der Hochwelt!“ rief der Rat begeistert, „voll
trotziger, unbeugsamer Kraft da über dem Abgrund, ein Bild unverwüstlicher
Lebenstüchtigkeit.“

Der Rat grüsste den gewaltigen Baumrecken wie einen längst Vertrauten.

„Nun, Professor, wie gefällt Ihnen mein alter Freund? Sehen Sie, welch
ein Bild! Heute im Sonnenbrände, morgen bei heraufziehendem Unwetter, Hagel
und Schneesturm, für den flüchtenden Wanderer und die angstvoll brüllende
Herde ein trutziges Schirmdach, und in seinem dichten Geäst der Schutz einer
ganzen Alpensängerkolonie. Ein wahres Lebensideal! Wie oft habe ich unter
dem verwitterten Geäst hier gesessen, weltverbittert wie Sie, als ich, vom Leben
zerschlagen, in die Einsamkeit der Alpenwelt hinaufflüchtete, damals, als mein
Junges Weib von einer tückischen Seuche dahingerafft wurde, die ich selbst vom
Krankenbett in mein Haus getragen hatte.“ Man hörte es seiner bewegten
Stimme an, dass diese Wunde bei ihm nie ganz vernarbt war. „Und dann
später, als meine Margot, meine einzige Tochter mir rasch an gleicher Krank-
heit dahinsiechte,“ seufzte er. „Ein lichtvolles Geschöpf, an das mich meine
Nichte so oft erinnert. Sehen Sie, Professor, da habe ich hier gesessen, ge-
brochen und lebensmatt, und mir den zähen, wetterharten Gesellen zum Exempel
vorgeführt und mich nach und nach an ihm zu neuer Lebensenergie aufgerafft
um meines Buben willen. Und mit der Arbeit kam die Kraft wieder, und nun,
denke ich, soll mir doch noch ein freundlicher Lebensabend unter dem Schutz-
dach der Liebe meiner wackeren Kinder werden.“

Ruthard horchte unruhig auf. So hatte er dem trefflichen alten Mann doch
vorher ar<j bitter Unrecht gethan!

„Sehen Sie, an den Alten hier habe ich in allen meinen Lebensnöten der
letzten zwanzig Jahre stets gedacht,“ fuhr dieser fort, „und er hat mich gelehrt,
ein solches Schutz- und Schirmdach auch für meine eigenen Kinder zu werden
und für alle Hilfesuchenden meines Lebenskreises.“

Ruthard war den letzten Sätzen kaum mehr gefolgt. Es verlangte ihn, um
jeden Preis Klarheit über das Verhältnis Ediths zu Otto zu erlangen. „Sie reden
von Ihrem Sohne“, fragte er sichtlich gespannt. „Ist Ihr Herr Sohn verlobt?“

„Verlobt von Kindesbeinen an, wenn Sie wollen; im gesellschaftlich ge-
brauchten Sinne wohl kaum. Edith und Otto haben stets nur für einander
gelebt und nie anderes gedacht, als dass sie sich für das Leben gehören sollten.“

Ruthard starrte völlig verstört vor sich nieder.

„Und Sie glauben, dass diese beiden nun erwachsenen Kinder in der That
und voll mit einander glücklich werden sollten?“ fragte er unsicher.

Der Rat sah den Professor einen Augenblick erstaunt an. „Das glaube ich
allerdings,“ antwortete er freudig entschieden.

„Vergeben Sie, nach allem, was ich von Ihrer Fräulein Nichte, ihrer Be-
fähigung und ihren Interessen kenne, und was Sie andererseits von Ihrem Herrn
Sohn, seinem Leben und seinem Interessenkreise mir mitzuteilen die Güte hatten,
scheint mir — ganz unmaassgeblich — doch eine schwer ausgleichbare Differenz
zwischen diesen beiden Naturen und Erziehungen zu bestehen.“

„Scheinbar gewiss,“ antwortete der Rat artig, wenn auch einigermaassen
befremdet. „Aber Otto ist wie ein klingendes Instrument in Ediths Hand.
Sonst eine abgeschlossene, herbe Natur, hingenommen von seinem Beruf, seinem
Leben und Schaffen, aber für alles erwacht, was Edith ihm zuführt, was ihr
teuer ist. Hätte ich je eine andere Neigung an meiner Nichte zu beobachten
Gelegenheit gehabt, so wäre ich wahrhaftig der Letzte gewesen, dem eingelebten
Vaterwunsche zu Liebe ihrem Glücke hinderlich zu sein, obgleich, ich gestehe
es Ihnen, diese Verbindung mein ganzes Altersglück hütet, das sich für mich
völlig in den Gedanken an ein dauerndes Zusammenleben mit den Kindern zu-
sammengedrängt hat.“

Wie ein Hagelschauer gingen die Worte des Alten über Ruthards Zukunfts-
hoffnungen. Edith und Otto waren also fest für einander bestimmt. Er fasste
sich nur mühsam, als er sich doch zu einer Antwort entschliessen musste.

„Sie haben schwere Schicksalsschläge erlebt, mein Herr Rat, und ich danke
Ihnen, dass Sie mich Ihres Vertrauens würdigten. Ich wünsche Ihnen einen
freundlichen Lebensabend."

Er sah dann wie abwesend in die sonnigen Weiten hinaus. Der Rat blickte
fragend zu ihm auf, als besänne er sich, ob nicht doch seine mitteilsame Natur
in allzuraschem Vertrauen einem Manne einen tieferen Blick in sein Inneres
gestattet habe, der möglicherweise dessen doch nicht völlig würdig sein möchte.
Er hatte ein bitteres Gefühl zu überwinden, und konnte bemerken, wie die an-
geregten Gedanken in seinem Begleiter fortarbeitete'n.

„Und doch müssen Sie mir zugeben“, stiess Ruthard jetzt, in Sinnen ver-
loren, hervor, „wenn doch sich heute noch eine andere Neigung bei dem einen
oder dem andern entwickeln sollte, keiner von ihnen wohl den Mut finden
 
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